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Mo

03

Nov

2014

"Keiner weiß mehr" - Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium an Dorian Steinhoff

In Düsseldorf den "Kölner Stadtanzeiger" lesen: Kann man mal machen.
In Düsseldorf den "Kölner Stadtanzeiger" lesen: Kann man mal machen.

Am 22.10.2014 wurde Dorian Steinhoff im Literaturhaus Köln das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium verliehen. Zur Preisverleihung musste Dorian eine Rede halten, und "eine Rede halten", das ist auch für einen Autor keine leichte Aufgabe. Vor allem dann nicht, wenn man noch nicht einmal ein Buch des namenstiftenden Autors gelesen hat. Dorian hat sich also den einzigen Roman von Rolf Dieter Brinkmann* vorgenommen, "Keiner weiß mehr", und ein Lesetagebuch geschrieben - als Dankeschön an die Verleiher und als Hommage an Rolf-Dieter Brinkmann. Dieses Lesetagebuch gibts jetzt hier nochmal in voller Länge:


Keiner weiß mehr

Lesetagebuch von Dorian Steinhoff

 

„Fantasie macht die Gegenwart verständlicher, offener, gegen den Schmand der gelebten Formulierung.“ Rolf-Dieter Brinkmann


Vielen Dank, liebe Stadt Köln, dass Du mir mit diesem Preis Zeit und Raum für Fantasie ermöglichst. Danke.

               

Mittwoch, 15.10., 9:34 Uhr

Eine Woche Brinkmann lesen, den einzigen Roman, „Keiner weiß mehr“ und dabei aufschreiben, wie es ist. Das erscheint mir angemessen, um an diesen als Genie der BRD-Nachkriegsliteratur geltenden Dichter bei der Preisverleihung im Literaturhaus zu erinnern und gleichzeitig eine persönliche Auseinandersetzung zu liefern, mich mit seinem Text in ein Verhältnis zu setzen.

Hoffentlich gefällt mir der Roman, sonst könnte das hier ziemlich in die Hose gehen.

 

Donnerstag, 16.10., 23:03 Uhr

Ich trage Jogginghose und weißes Unterhemd. Ich höre Tom Waits, Mule Variations, liege auf dem Bett und beginne für heute die Brinkmann-Lektüre. Der Single Malt bleibt in der Küche, etwas muss immer fehlen, um genießen zu können.

Auf dem Umschlag meiner Ausgabe von „Keiner weiß mehr“ steht: „Brinkmanns Schriften formulieren das Lebensgefühl einer Generation, die der Faszination von Beat, Film und Mode erlegen ist.“ Nach meinem Eindruck, nach 38 gelesenen Seiten, müsste es passender „das Lebensgefühl einer Männergeneration, die der Faszination für Frauen, Brüste und primäre Geschlechtsteile erlegen ist“ heißen: Allerdings, welche Männergeneration kann sich davon freisprechen und welcher Klappentext davon, nicht die Wahrheit zu sagen. Es klingt übrigens so:


„Zwei ältere Männer, schweigend dicht nebeneinandergestellt vor den wannenförmig abgeteilten Porzellanbecken, starr aufgerichtet und einander etwas in den offenen Hosenschlitz mit den aus der Hose herausgezogenen steifen Stummeln zugedreht, ohne sich zu bewegen bis auf die kaum sichtbare zupfende Bewegung der Finger unten auf und ab, mit der sie vorsichtig die Vorhaut weich über den angeschwollenen Kopf und kranzartige Absetzung in steter Gleichmäßigkeit vor- und zurückschoben, […]“


Mal sehen, wie es weitergeht, von mir aus kann es so bleiben, ich bin passend gekleidet.

 

Freitag, 17.10., 15:23 Uhr

Bin gestern noch bis Seite 78 gekommen. Ich lese langsam, die Sätze sind bandwurmartig lang, Brinkmann erzählt alle Rahmenschilderungen in Nebensätzen und Einschüben. Außerdem scheint er pedantisch genau darauf bedacht gewesen zu sein, dass keine Formulierung, keine Beschreibung, am besten gar nichts vom Leser missverstanden werden könnte. Auf Ergänzung folgt Ergänzung, folgt Erklärung, folgt verdeutlichende Metapher, folgt hinten angesetztes Adjektiv, folgt noch ein Komma, irgendwann ein Punkt.


„Die anderen waren schon deshalb reizvoller, weil sie nicht seine Frau waren, keines der Mädchen dort drüben oder das Mädchen bei ihnen am Tisch, aber nicht nur deswegen in dem Moment für ihn hübscher als sie neben ihm und dann doch nur wieder deswegen, dachte er, als er nachher wieder mit ihr in der Wohnung war, zusammen im Badezimmer, müde verschwitzt, und noch etwas von ihr wollte, das, was er vorher im Musikkeller an den meisten anderen Mädchen mehr zu sehen geglaubt hatte, etwas anderes, mehr als eben an ihr, seiner Frau, die jetzt vor ihm am Waschbecken stand und das Gesicht vorgestreckt hielt […]“


Und so weiter. Der Punkt folgt erst eine halbe Seite weiter unten. Er macht mir das etwas zu oft so. Weil: eigentlich die ganze Zeit. Ach ja, es geht übrigens um Gerald und Rainer, Rainer hat Frau und Kind, das Kind ist sehr klein, ein Säugling, neugeboren, es kann noch nicht sprechen und Rainer ärgert das.


„[…] das Kind musste jetzt endlich sprechen lernen, es war schon so groß und konnte immer noch nicht richtig sprechen, kein Wort, nur Laute, naß gelallt, lala, lalalala, verseibert.“


Ich schweife oft ab beim Lesen. Es ist ein wenig so, als ob einem jemand in der Küche gegenübersitzt, ein näherer Bekannter, kein richtiger Freund, und ununterbrochen redet, richtig schwallt, Frau, Kind, Penis, Sperma, Tanzen, Schuhe im Schaufenster gesehen, diese alten Leute, Bürger, alle widerlich, die jüngeren: Kuscher. Und genauso, wie man sich so jemandem gegenüber sitzend ans Zuhören erinnern muss und ab und zu, Aufmerksamkeit versichernd nickt, „hmhm“ und „ja, verstehe“ sagt, so muss ich beim Lesen auch immer wieder an mich appellieren: Aufpassen jetzt. Das ist nämlich alles andere als geschwätzig, diese Prosa, das ist richtig gut, das groovt, das hat Beat und ein wahnsinniges Tempo. Man merkt das, wenn man Passagen laut vorliest.

Wie Brinkmann es schafft, zu artikulieren, wie sich ein Erlebnis in dem Moment anfühlt, in dem man es erlebt, an den besten Stellen sogar nur mit sprachlichen Mitteln spiegelt, wie man erlebt, wie unbegreiflich die erlebte Gegenwart ist, wie er das hinkriegt, das ist schon ziemlich gut. Ich verstehe nur nicht, warum er im Präteritum schreibt. Präsens wäre passender.

 

Samstag, 18.10., 23:26 Uhr

Reaktionen vom Menschen, denen ich Passagen vorgelesen oder zum Lesen hingehalten habe:


A: „Boah ey, da hab ich nach drei Zeilen schon kein Bock mehr. Vielleicht bin ich aber auch schon zu müde.“

B: „Gefällt mir gut.“

C: „Also, zum Literarischen Sommer hätte ich den nicht eingeladen.“

 

Sonntag, 19.10., 13:13 Uhr

Im Feuilleton der Wochenend-SZ feiert Jens-Christian Rabe den inszenierten Dokumentarfilm „20.000 Days on Earth“ von und über Nick Cave. Er ist ganz aus dem Häuschen, ich werde diesen Film auf jeden Fall anschauen, wollte ich aber auch schon, bevor ich den Artikel gelesen hatte. Jedenfalls, er zitiert aus dem Film, Cave sagt wohl: „Wer kennt schon seine eigene Geschichte? Sie ergibt gewiss keinen Sinn, während wir sie erleben. Da ist nur Chaos und Geschrei. Es wird erst eine Geschichte, wenn wir sie uns wieder und wieder erzählen.“

Ungefähr nach diesem Prinzip funktioniert „Keiner weiß mehr“. Brinkmann wusste genau wie Cave, dass das Jetzt ein großer Matsch ist, zusammengesetzt aus Chaos und Geschrei, aus unzähligen Sinneseindrücken. Überblicken können wir nur, was wir von ihm erzählen, uns selbst und allen anderen. Die Eindrücke denkend und redend ordnen. Dieser Matsch ist dann trotzdem in allem, in unseren Wörtern und Gedanken, sie sind aus ihm gemacht; und wie wir damit umgehen, welche Geschichten wir erzählen und ob wir sie aufrichtig erzählen, davon hängt ab, welche Spuren sie auf unseren Gesichtern zurücklassen, davon hängt ab, wer wir sind. Gerald und Rainer kämpfen sehr um Spuren der Schönheit. Und scheitern natürlich ständig.

Letzte gelesene Szene: Ein Streit zwischen Rainer und seiner Frau. Die Dramaturgie einer Stellvertreter-Auseinandersetzung. Es geht um gar nichts, da ist kein akuter Konflikt und trotzdem geht es natürlich um alles, um all das, was nicht aussprechbar ist, weil es ausgesprochen das Ende bedeuten würde, und das Ende, das ist noch schlechter zu ertragen als der Streit. Es ist die pure Verzweiflung. Also schreit Rainer, er schreit: „Hau ab!“ und dann muss er lachen und weiß am Ende gar nicht mehr, warum sie gestritten haben, und so sitzen sie dann erschlafft und mutlos am Küchentisch. Brinkmann lässt sie da einfach sitzen, zu zweit, alleine und beschmutzt, vor und von der Unfassbarkeit der Welt. Groß!  

 

Sonntag, 19.10., 17:31 Uhr

Ich würde gerne mehr prägnante Zitate aus „Keiner weiß mehr“ in das Lesetagebuch einflechten, aber es geht nicht, die Sätze sind zu lang. Ich habe ein Platzproblem, würde ich dem Primärtext den Raum einräumen, den ich brauche, könnte ich alles andere gleich weglassen und einfach ein paar Gedichte rezitieren. Einfacher und zeitsparender wäre es allemal.

 

Montag, 20.10., 23:09 Uhr

Habe heute bisher nur zehn Seiten im Zug gelesen, auf dem Weg nach Köln. Ob Rainer jetzt getrennt von seiner Frau lebt oder es sich nur vorgestellt hat, weiß ich nicht, ich habe es nicht mitbekommen. Vermutlich habe ich die Stelle überlesen, als neben mir gleichzeitig drei Leute telefonierten.

Voller Tag heute. Interview- und Foto-Termin, danach die neue Kolumne für den SWR einlesen. Zurückfahren, Erledigungen, Mails abarbeiten, Buchhaltung 3. Quartal 2014. Morgen lobt mich mein Steuerberater. Ich habe fast vergessen zu essen. Brinkmann hätte an meiner Stelle jetzt wahrscheinlich schlechte Laune. Ich bekomme einen Schnupfen.

Ich werde versuchen noch ein bisschen weiterzulesen.

 

Dienstag, 21.10., 0:18 Uhr

Hat nicht geklappt. Ich musste telefonieren, einem wichtigen Freund geht es im Moment nicht so gut.

 

Dienstag, 21.10., 13:26 Uhr

Den Vormittag schon wieder mit Büroarbeit verbracht. Der Oktober ist immer ein fieser Monat. Jedes Jahr, es läuft immer gleich: Unglaublich viele Termine. Und gleichzeitig muss man schon die Konzepte, Verträge, Anträge und Bewerbungen für das erste Halbjahr des Folgejahres erdenken, schreiben und wegschicken. Jetzt muss ich zu einem Interview mit einer Redakteurin von WDR5 Scala. Heute Abend dann eine Lesung in Dortmund. Und bei all dem habe ich dieses miese Gefühl im Rachen, mit dem sich eine Erkältung ankündigt. Durchhalten. Im Zug weiterlesen.

 

Mittwoch, 22.10., 13:11 Uhr

Heute. Preisverleihung. Und es nimmt kein Ende, E-Mail, Anrufe, Stress. Und was ziehe ich nachher eigentlich an? Habe gestern im Zug kaum weitergelesen, bin zwei Mal eingeschlafen, und richtig hochgeschreckt, als der Zug in Bochum hielt. Ich hatte Kopfweh und vielleicht schon etwas Fieber. Dabei wird es grade richtig gut, die Auseinandersetzung zwischen Rainer und der Frau, die Schilderung einer großen Beziehungskrise nach der Geburt des ersten Kindes. Gefällt mir sehr gut. Obwohl ich immer noch nicht verstehe, warum Brinkmann der Sprache so misstraut. Alles ist durchzogen davon, das ganze Buch kann man als großen Kampf gegen die Ungenauigkeit der Sprache lesen, dagegen, nicht sagen zu können, was man sagen will und muss. Für den Leser ist das anstrengend, als ästhetisches Konzept für Prosa ist es sehr interessant. Den ganzen sprachskeptischen Lyrikern würde das sicher sehr gut gefallen. Ich werde Tristan morgen in München davon erzählen.

Von der lieben Veranstalterin in Dortmund bekam ich ein pflanzliches Mittel zur Aktivierung der Abwehrkräfte und Erkältungstee. Ich scheine durchzuhalten.

 

Mittwoch, 22.10., 16:42 Uhr

Ich habe es nicht geschafft. Ich habe nicht geschafft „Keiner weiß mehr“ in einer Woche zu lesen und darüber zu schreiben. Es war einfach zu wenig Zeit. Vielleicht bringt mich das Brinkmann aber auch so nah, wie es überhaupt geht. Hatte er doch wirklich viel zu wenig Zeit für alles. Viel zu wenig Zeit.

* Rolf Dieter Brinkmann (* 16. April 1940 in Vechta; † 23. April 1975 in London). Ab 1962 in Köln. Wir alle im mairisch Verlag sind große Brinkmann-Fans und empfehlen neben dem Roman "Keiner weiß mehr" unbedingt auch die Materialbände "Rom, Blicke" und "Schnitte" sowie seine Lyrik "Piloten" und "Westwärts 1 & 2". Alle Bücher sind im Rowohlt-Verlag erschienen.

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Di

30

Sep

2014

"Albuquerque" - Fotos zu den Geschichten

Gerade ist Florian Wackers Debüt "Albuquerque" erschienen - zu den einzelnen Geschichten haben er und die Fotografin Melina Mörsdorf Fotos gemacht, die die Stimmung der Texte perfekt einfangen.

 

Das Buch enthält 14 Geschichten, kostet 16,90 Euro und ist in richtig schönes Leinen gebunden, mit Lesebändchen.

-> Bestellbar hier im Webshop

 

Serpentinen
"Am nächsten Abend kamen wir wieder. Wir standen im Wasser eine Weile nebeneinander und beobachteten, wie sich unsere Schwänze zu kleinen Schnecken kringelten."

 

Transit

"Er wusste nicht, ob ihn ein besseres Leben erwartete, aber er wollte es glauben. Jetzt musste er daran glauben."

 

Muffe

"Ich denke, dass Muffe mein Freund gewesen ist. Vielleicht nicht der allerbeste, vielleicht nicht der, mit dem ich jeden Scheiß hätte durchziehen können, aber er war ein Freund, das steht für mich fest."


Spieltag

"Es würde wie ein Rausch sein, ein kurzer, heftiger Schock. Vielleicht wie in einem Traum, aus dem man verstört erwacht und glücklich darüber ist, es überstanden zu haben."

 

Terrakotta

"Schweigend saßen sie sich gegenüber in dem großen, unbewohnten Haus und lauschten dem regen und den Geräuschen des abfließenden Wassers in den Rinnen und Rohren. Alex knetete den Ball, dann ließ er ihn zu Kolb rollen, und Kolb rollte ihn zurück."

 

Die Geräusche der Nacht

"Er schnitt zuerst ins Fell an den Hinterläufen, und das Geräusch des schneidenden Messers erinnerte Keitel an etwas Zartes, an Luises Atmung, an Christines Herzschlag, wenn sie vor dem Fernseher eingeschlafen war."

 

Kluge Köpfe

"Georg schwieg. Er hatte in den Jahren gelernt, die Klappe zu halten und sie reden zu lassen. Er glaubte, das war das Einzige, was er für sie tun konnte."

 

Budde

"Er blieb vor dem Spiegel stehen, starrte in ein bleiches, fröstelndes Gesicht. Überall war Schnee. Seine Fäuste wurden blau. Seine Fäuste wurden zu Eis."

 

Albuquerque

"Ron hatte sich zurückgelehnt, und wie er so dasaß und mich ansah, war er nur irgendein müder Arbeiter in einem Diner, ein Mann, der die besten Jahre hinter sich hatte und nicht so recht wusste, was er mit den verbliebenen noch anfangen sollte."

 

Container

"Er hatte keine Angst mehr, er sah auch nicht mehr hinüber zu den Jungs, sondern ließ seinen Blick hinauf in den schmalen Streifen Himmel wandern, von wo die Stimmen zu ihm herunterkamen."

 

Andy

"Einige von uns wichen zurück, anderen blieben wie erstarrt am Beckenrand sitzen und ließen das Wasser auf sich herabregnen. Anmutiger und melodiöser hatten wir bis dahin niemanden eine Arschbombe ins Dahlenberger Becken springen sehen."

 

Weiß

"Sie dachte wieder an das schmale Gesicht des Toten, an das Summen der Lüftungsrohre, dachte daran, wie stolz sie gewesen war, als sie sich zum ersten Mal das Schild mit ihrem Namen und ihrem Bild an die Dienstkleidung geheftet hatte. Jetzt gehöre ich dazu, hatte sie gedacht, jetzt bin ich eine von ihnen."

 

Solar

"Sie schauen hinüber, die Kinder verstummen, jemand steht in den Wellen und kratzt sich am Hintern. Alle Nackten schauen jetzt hinüber, es ist ein besonderer Moment, das wissen sie. Doris legt einen Arm um ihn. So sitzen sie dicht nebeneinander und beginnen zu frieren. Es wird nicht dunkel, es wird alles schwarz."

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Mo

15

Sep

2014

Alles eine Frage des Stils? - Eine kleine Reise in die 140-jährige Vergangenheit des Sportkletterns

von Eva Hammächer

»Deine Leistungen im Klettern sind weit weniger bedeutend als das, was du in diesem Entwicklungsprozess lernst – nicht was, sondern wie du etwas kletterst, zählt!«(Fussnote 1) - Lynn Hill

Klettern ist eine der archaischsten Bewegungsformen überhaupt. Seit Jahrtausenden steigen Menschen auf Berge, erklimmen Felswände und tun dies bis heute. Auch wenn die Faszination für die Berge über die Jahre nicht spurlos an diesen vorüberging, so stehen die hohen Wände heute noch weitestgehend unverändert da. Gewandelt haben sich jedoch über die Jahrzehnte Motive, Regeln, Stile und Spielformen, sich diesen Wänden zu nähern. Dieser philosophische Unterbau des Kletterns unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel und spiegelt somit immer auch den Geist der jeweiligen Zeit. Und da es im Wesen des Menschen liegt, sich ständig weiterzuentwickeln, wurden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte an den Felswänden dieser Welt unzählige persönliche Berge versetzt – von denen einige zu Meilensteinen des Klettersports geworden ­sind. ­

Der Weg ist das Ziel!

Bergsport hat viele Facetten: Sie reichen vom einfachen Bergwandern bis hin zu Expeditionen auf die höchsten Gipfel dieser Erde. Im Fokus dieser kleinen Reise in die Vergangenheit steht jedoch eine eher junge Spielform des Bergsports: Die des Frei- bzw. Sportkletterns. Wird die Geburtsstunde des Alpinismus bereits im 14. Jahrhundert verortet, als der italienische Dichter Petrarca 1336 erstmals den Mont Ventoux aus reinem Selbstzweck bestieg, so führt die Suche nach der Wiege des Freikletterns auf direktem Wege ins Elbsandsteingebirge des 19. Jahrhunderts. Im klassischen Alpinismus war noch der Gipfel das Ziel und der Fels nur eines von vielen zu überwindenden Hindernissen. Für die sächsischen Freikletterer wurde erstmals der Weg zum Ziel und die Schlüsselstelle zum neuen Gipfelkreuz. Mit der Besteigung des Matterhorns 1865 endete das Goldene Zeitalter des Alpinismus. Wichtiger als die Frage, wo man hinaufgestiegen ist, wurde von nun an die Frage, wie man dort hinaufgekommen war.

Das Elbsandsteingebirge: Wiege der Freikletterkultur

Die imposanten Türme des sächsischen Elbsandsteingebirges zogen die Menschen schon früh auf ihre Gipfel. 1864 erklomm eine Turnergruppe aus Bad Schandau den Falkenstein – erstmals in der Geschichte des Kletterns aus rein sportlichen Motiven. Sie verwendeten jedoch noch künstliche Hilfsmittel wie Leitern. Aus diesem Grund gilt die Besteigung des Mönchsteins im Jahre 1874 durch Otto Ewald Ufer und seinen Begleiter H. Frick als die eigentliche Geburtsstunde des Freikletterns. Die beiden verzichteten bewusst auf Hilfen wie Steigbaum, Leiter oder Spitzhacke. Technische Hilfsmittel durften nur zur Sicherung und nicht zur Fortbewegung eingesetzt werden. Eine Route musste nach dieser neuen Ethik nur durch die eigene Körperkraft bewältigt werden. Auch der österreichische Alpinist Paul Preuß plädierte in seinen 1911 niedergeschriebenen Klettergrundsätzen für einen Verzicht auf künstliche Hilfsmittel bei der Besteigung eines Berges und war damit ein weiterer geistiger Vater des Freikletterns.
Der sportliche Ehrgeiz an den sächsischen Felsen wuchs, und um die Leistungen vergleichen zu können, entstanden erste Spielregeln und eine erste Schwierigkeitsskala: 1893 stellte der Sachse Oscar Schuster seine dreistufige Schwierigkeitsskala vor. Zwanzig Jahre später veröffentlichte der Jurist Rudolf Fehrmann mit der zweiten Auflage seines Kletterführers für die Sächsische Schweiz verbindliche Kletterregeln, die den Verzicht auf künstliche Hilfsmittel zur Fortbewegung am Fels festschreiben: Geklettert werden durfte demnach nur an natürlichen Haltepunkten; Veränderungen an der Felsoberfläche und das Schlagen von Sicherungsringen (außer bei Erstbegehungen) waren nicht erlaubt. Mit geringfügigen Veränderungen gelten diese Regeln im Elbsandstein bis heute. Mit einem sehr strengen Regelwerk (kein Magnesia, keine mobilen Sicherungsgeräte, Klettern nur an frei stehenden Türmen …) und einer eigenen Bewertungsskala nehmen die Sachsen bis heute eine Sonderstellung ein.

Die revolutionären Siebziger: Freies Klettern und freie Liebe im Yosemite

Eine zentrale Figur im Elbsandstein war der Dresdner Bergsteiger Fritz Wiessner. Ihn zog es im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 in die USA, wo er das sächsische Gedankengut in den amerikanischen Klettergebieten verbreitete. Damit legte er den Grundstein für die Entwicklung des Freikletterns im kalifornischen Yosemite Valley, in dem in den Siebzigern Klettergeschichte geschrieben wurde. Dominierten hier in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch technische Klettereien an den majestätischen Big Walls von Half Dome oder El Capitan durch Protagonisten wie Royal Robbins oder Warren Harding, so entwickelte sich in den Siebzigerjahren auf dem legendären Zeltplatz Camp 4 eine eigene lebendige Hippie-Szene, die einen lockeren Lebensstil kultivierte und von der Hand in den Mund lebte. Das bürgerliche Establishment betrachtete die Aussteiger auf Zeit mit Skepsis: Kletterer galten »als Spinner und Psychopathen. Ihr Lebenswandel muss den meisten Uneingeweihten in der Tat seltsam vorgekommen sein. Immer wieder hängten sie Jobs und Karrie­ren an den Nagel, nur um ins Valley zu ziehen und dort zu klettern.« (FN2)
Einer der Camp-Protagonisten, John Long, erinnert sich: »Während der Siebzigerjahre stand das Camp 4 für alles, was illegal war – inklusive seiner Bewohner. Den ganzen Sommer über ließ sich nicht ein einziger Ranger blicken. Sie hatten etwas Besseres zu tun, als ein Lager voller Penner zu durchstöbern. Penner, die nichts anderes im Hirn hatten, als herumzulungern und zu klettern. Oft wurde es sogar als das Lager der Aussätzigen bezeichnet. Wer die Ausrüstung, das Nervenkostüm und keine Zukunft hatte, gehörte dazu.« (FN3) Mit langen Haaren, Stirnband, weißen Marinehosen oder abgeschnittenen Jeans und nacktem Oberkörper dis­tanzierten sie sich von den Kniebundhosen und roten Kniestrümpfen der traditionellen Bergsteiger. Mit ihrem Lebens- und mit ihrem neuen Kletterstil verkörperten sie die Werte der Achtundsechziger-Generation, Freiheit und Individualität, bis zur Perfektion.
So easy-going ihr Lebenswandel jenseits der Felswand war, so leistungsorientiert und konkurrenzbetont waren sie, wenn es um das Durchsteigen von Routen ging. Auch den deutschen Alpinisten Reinhard Karl zog es zusammen mit Helmut Kiene in den Siebzigern ins Tal. Er beschrieb Leben und Tagesablauf der Camp-Bewohner folgendermaßen: »Jeder hier nimmt irgendeinen Stoff, um high zu werden, mindestens Marihuana. Die meisten verbringen hier den ganzen Sommer. Faul sein ist hier eine wesentliche Voraussetzung, um ein guter Kletterer zu werden. Die fünf Lebensregeln, mit denen sie den Tag knacken, sind in der Reihenfolge der Wichtigkeit: 1. Klettern, 2. Sonnenbaden, 3. Essen, 4. Drogen, 5. Frauen. Das Wort Arbeit kommt nicht vor.« (FN4) Die beiden Alpinisten reimportierten den Freiklettergedanken nach Europa und kletterten 1977 mit den Pumprissen am Fleischbankpfeiler im Wilden Kaiser die erste frei gekletterte Route im siebten Grad in den Alpen. Damit sprengten sie die seit 1923 geltende sechsstufige Welzenbach-Skala, die bis dahin den oberen sechsten Grad als absolute Grenze des Menschenmöglichen vorsah. Ein Jahr später wurde die Skala den Realitäten angepasst und nach oben geöffnet. Die Amerikaner waren in dieser Hinsicht fortschrittlicher und hatten schon früher ein nach oben offenes Bewertungssystem.
Die neue Kletterer-Generation im Yosemite ließ einfach die Ethik des Technokletterns mit künstlichen Hilfsmitteln hinter sich und pushte dafür die Limits – bewaffnet mit Chalk, den neuen EB-Kletterschuhen mit Reibungssohle, Nylon- statt Hanfseilen, Hüftgurt statt Alpinisten-Kombigurt und den von Royal Robbins und Yvon Chouinard aus England importierten Nuts – speziellen Klemmkeilen für Risse. Galt zuvor die Devise »Auf keinen Fall stürzen!«, stieg mit der materiellen Aufrüstung die Sturzbereitschaft und damit auch das Kletterniveau. Die Freikletterrevolution hatte Einzug gehalten. Der Onsight war das höchste Gut, das Ausbouldern von Routen dagegen Betrug. Stürzte man, wurde man zum Boden abgelassen und musste wieder von vorne anfangen (Yo-yo-ing). Mitte der Siebziger kam es zu einer wahren Leistungsexplosion im Yosemite. Die herausragenden Leitfiguren im Valley waren zu diesem Zeitpunkt Ron Kauk und John Bachar. Kauk eröffnete und kletterte die schwierigsten Routen im Valley, darunter den weltberühmten Boulder Midnight Lightning (Fb 7b+, 1978) am Columbia Boulder mitten im Camp 4. Auf sein Konto geht auch die Route Separate Reality (8+, 1977), ein spektakuläres, sechs Meter ausladendes Rissdach, 200 Meter über dem Boden, das damals nicht nur eine der schwersten Routen der Welt war, sondern Ausdruck einer neuen Klettergeneration. Bachar machte vor allem mit spektakulären Free-Solo-Aktionen auf sich aufmerksam. Beide zusammen trieben das Schwierigkeitsniveau innerhalb kurzer Zeit bis in den neunten Grad (UIAA).

Die weltweit erste Route, die den unteren zehnten Grad berührte, gelang jedoch 1977 Ray Jardine mit Phoenix.
Jardine beging diese Tour in einem neuen Stil, dem Hangdogging, bei dem an den Sicherungspunkten geruht und die Schlüsselstelle analysiert und ausprobiert werden konnte. In diesem Stil kletterte er eine ganze Serie an schweren Routen, auch dank der von ihm erfundenen Friends (mobile Sicherungsgeräte), die das Rissklettern nachhaltig veränderten. Es entbrannte eine Ethik-Diskussion zwischen Traditionalisten wie Bachar, die am Ground-Up-Stil festhielten, und progressiveren Vertretern wie Kauk oder Tony Yaniro, die sich dem neuen Hangdogging öffneten, um noch schwerere Routen klettern zu können. So checkte Yaniro bei der Begehung von Grand Illusion (10-, 1979) die schwierigsten Stellen vor dem Durchstieg aus. Die Szene verurteilte ihn dafür. Für ihn zählte jedoch allein die Linie und nicht der Stil. Der Ethik-Streit gipfelte im Jahre 1987, als Ron Kauk Punchline (9-) am Arch Rock eröffnete. Es war die erste von oben eingerichtete Route im Valley. Bachar sägte kurz darauf die Haken ab, was zu einer handgreiflichen Diskussion im Camp führte: »Bachar brach im Staub des ehrwürdigen Campgrounds zusammen – und mit ihm die letzte Hürde zum modernen Freiklettern im Yosemite.« (FN5) Der Streit um die richtige Ethik führte zur Stagnation im Tal, die explosionsartige Steigerung der Schwierigkeit in den Siebzigern fand damit ihr jähes Ende.

Die Siebziger in Deutschland: Ein roter Punkt erobert die Welt

Auch in Deutschland war der Klettersport mittlerweile aus dem Dornröschenschlaf erwacht: Kurt Albert reiste 1973 ins Elbsandstein, wo Bernd Arnold zu der Zeit die Szene unangefochten dominierte. Angesichts des dort vorherrschenden hohen Niveaus kam Albert zu dem Schluss, dass das technische Klettern langfristig in eine Sackgasse führen musste. Daraufhin versuchte er, bis dahin technisch gekletterte Routen in seiner Heimat im Nördlichen Frankenjura frei zu klettern. Ab 1975 markierte er jede Route, die er frei begangen hatte, mit einem roten Punkt: »Ein roter Punkt am Beginn eines Kletterweges oder einer Variante bedeutet, dass es möglich ist, den Anstieg ohne Benutzen der Haken als Griffe oder Tritte oder Benutzen sonstiger Hilfsmittel, die der Schwerkraft entgegenwirken, in freier Kletterei zu bewältigen.« (FN6) Anders als beim a.-f.-Stil (a. f. = alles frei) der Sachsen durfte jedoch nicht an den Sicherungspunkten geruht werden. Der rote Punkt revolutionierte die gesamte Freikletterszene und trieb das Kletterniveau weiter nach oben: Bereits 1977 hatte Kurt Albert mit den Routen Osterweg und Der Exorzist im Frankenjura das Tor zum unteren achten Grad aufgestoßen – auch wenn es diesen Schwierigkeitsgrad in der Bewertungsskala zu diesem Zeitpunkt offiziell noch gar nicht gab.

Die Achtziger: Generation X

Die Achtzigerjahre waren nicht nur in modischer Hinsicht herausragend: So reisten Kurt Albert und der Pfälzer Wolfgang Güllich Ende der Siebziger ins Elbsandstein und ins Yosemite, um dort in den damals üblichen hautengen Leggings die schwierigsten Routen zu bezwingen. Das im Tal vorherrschende Leistungsniveau beeindruckte die beiden nachhaltig und inspirierte sie zu systematischem Training: In ihrer Wohnung in Oberschöllenbach richteten sie sich eine kleine Folterkammer mit Hanteln, Reckstangen, Leisten und Griffbrettern ein. »Viel hilft viel!«, lautete die Devise. »Morgens um 9 Uhr zogen wir 200 Klimmzüge, danach gingen wir acht Stunden an die Felsen und zogen am Abend nochmal 200 Klimmzüge. Das führte ziemlich konsequent zum Übertraining« (FN7), erinnert sich Kurt Albert. Die Schwierigkeitsgrade fielen wie Dominosteine, die liberalere Kletterethik im Westen Deutschlands führte dazu, dass die Amerikaner und auch die Sachsen schnell ihre Vormachtstellung verloren: 1981 kletterte Kurt Albert mit Sautanz an den Oberen Gößweinsteiner Wänden die erste Route in Deutschland im unteren neunten Grad. Im gleichen Jahr reiste die internationale Kletterelite nach Deutschland zum Konsteiner Kletterfestival, dem »Woodstock des deutschen Kletterns« (FN8), um die härtesten Routen im Frankenjura zu knacken, darunter Chasin the Trane am Krottenseer Turm, mit glatt neun die damals schwerste Route im Frankenjura. Kurz darauf bekam Güllich Besuch von dem schillernden Briten Jerry Moffatt, der mit The Face im Altmühltal die erste Route im unteren zehnten Grad weltweit kletterte. Auch Frankreich entwickelte sich – auch aufgrund seiner liberaleren Kletterethik – in den Achtzigern zu einer der führenden Sportkletternationen. Protagonisten wie Patrick Edlinger, die Gebrüder Le Menestrel oder Catherine Destivelle hinterließen ihre Spuren in den historischen Gebieten Buoux, Céüse oder dem Verdon, wo damals die schwersten Routen Frankreichs entstanden.
In den kommenden Jahren sorgte jedoch vor allem einer dafür, dass die Grenze des Menschenmöglichen immer weiter nach oben verschoben wurden: Ausnahmetalent Wolfgang Güllich. 1984 kletterte er mit Kanal im Rücken im südlichen Frankenjura die erste Route im glatten zehnten Grad, getoppt von Punks in the Gym (10+) am Mount Arapiles in Australien ein Jahr später. Aufsehen erregte auch seine Free-Solo-Begehung von Ron Kauks Separate Reality im Jahre 1986. Mit Wallstreet eröffnete er 1987 am Krottenseer Turm erstmals den unteren elften Grad. Den Höhepunkt seiner Kletterkarriere bildete aber der Durchstieg der von Milan Sykora am Waldkopf im Krottenseer Forst eingebohrten Route Action Directe im Jahre 1991, dem ersten glatten Elfer weltweit – nach elf Tagen am Fels und monatelangem Fingerloch-Training am Campus-Brett. Ein Jahr später verstarb Güllich tragisch an den Folgen eines Autounfalls. Er war einer der besten und einflussreichsten Kletterer seiner Zeit und wurde zur Ikone einer ganzen Generation. Er war die Inkarnation des Sportkletterns der Achtzigerjahre und schaffte es quasi im Alleingang, das internationale Kletterniveau innerhalb eines Jahrzehnts um zwei Schwierigkeitsgrade anzuheben. Für ihn wie für viele seiner Sparringspartner waren jedoch Kletter-Philosophie, Ethik und Trainingslehre mindestens genauso wichtig wie das eigentliche Klettern. In zahlreichen Aufsätzen und Artikeln schrieben Güllich und seine Zeitgenossen ihre Auffassung vom High-End-Klettern nieder. Eine derartige theoretische Durchdringung des Klettersports durch die Haupt-Protagonisten sollte es danach so nicht mehr geben.

Die Neunziger: Generation Plastik

In den Neunzigern bereicherten Leggings in schrillen Farben die Klettergebiete – und nicht nur die, denn neben Tennishallen schossen nun auch Kletterhallen wie Pilze aus dem Boden. Der Bau künstlicher Kletteranlagen seit Mitte der Achtzigerjahre schuf völlig neue Trainingsmöglichkeiten und legte den Grundstein für eine neue Entwicklung im Klettersport: Klettern wurde zum Breitensport und hielt Einzug in die Gesellschaft. Aus einem Haufen Freaks bildete sich ein sportlicher Trend: Die Hallen zogen eine breitere Zielgruppe an, die sonst nicht unbedingt den Weg an den Fels gefunden hätte. Der Sport wurde immer populärer und professioneller und ließ auch die Bergsportindustrie auf den rasant fahrenden Zug aufspringen. Es entstanden neue Kletter-Marken, die Ausrüstung wurde immer leichter, bequemer und sicherer.

Durch gezielte Trainingsmöglichkeiten zu jeder Zeit und bei jedem Wetter konnte die Kletterelite ihr Niveau weiter steigern, was als logische Konsequenz die ersten Kletterwettkämpfe nach sich zog – anfangs noch am Fels, dann am Plastik: 1987 wurden Lynn Hill und Stefan Glowacz an den Felsen von Arco zu den ersten Rockmastern gekürt. 1991 fand in Frankfurt – mittlerweile an der Kunstwand – die erste Sportkletter-WM statt, aus der der Franzose François Legrand als erster Weltmeister im Leadklettern hervorging. Ab 1989 fanden erste Kletterweltcups im Leadklettern statt und ab 1998 auch in den Disziplinen Bouldern und Speed.
Vor allem das Bouldern, das seilfreie Klettern in Absprunghöhe, erfuhr in den Neunzigern eine explosionsartige Entwicklung und wurde von einer Trainingsform zu einer eigenständigen Kunstform. Seine Ursprünge reichen bis in die Zwanzigerjahre in die Wälder von Fontainebleau zurück, wo die sogenannten Bleausards die dort verstreuten Sandsteinblöcke bestiegen. Maßgeblich entwickelt wurde der Sport aber vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren durch den Amerikaner John Gill, den Vater des modernen Boulderns. Er übertrug Techniken und Trainingsmethoden des Turnens auf das Klettern und machte dynamische Züge salonfähig. In den Neunzigern entwickelte sich eine eigene Boulder-Szene, die man nicht nur an ihren Crashpads erkannte, sondern auch an den weiteren Hosen, Daunenjacken und der Tatsache, dass auch bei hochsommerlichen Temperaturen mit nacktem Oberkörper und Wollmütze gebouldert wurde. Bouldern bot den cooleren Lifestyle als das Klettern mit Seil: Man hing gemeinsam ab, pushte sich gegenseitig die Wände hoch und tüftelte gemeinsam an harten und schwer zu lösenden Bewegungsproblemen. Bouldern reduziert das Klettern auf das Wesentliche: auf kreative Bewegungen an gegebenen Griffen und Tritten. Die oft spektakulären Züge vor versammelter Mannschaft bieten eine bessere Bühne zur Selbstinszenierung als das klassische Seilklettern. Und das sowohl am Fels als auch in der Halle. Daran hat sich bis heute nichts geändert und der Boulder-Boom ist ungebremst.

Charakteristisch für die Neunzigerjahre war jedoch auch der postmoderne Stilpluralismus: Fels- und Hallenklettern, Bouldern und Sportklettern, alpines Sportklettern, frei gekletterte Bigwalls, Mixed- und Eisklettern oder Deep Water Soloing – die verschiedenen Stile existierten und entwickelten sich gleichberechtigt nebeneinander.

Klettern im 21. Jahrhundert: Generation XII

Über hundert Jahre Geschichte hat das Frei- bzw. Sportklettern mittlerweile auf dem Buckel. Doch wo steht der Sport heute? Aus anfänglich drei Schwierigkeitsgraden sind mittlerweile zwölf geworden: Das inzwischen erwachsene Wunderkind Adam Ondra eröffnete im Oktober 2012 in der Flatanger Cave in Norwegen mit Change erstmals den unteren zwölften Grad. Mit La Dura Dura im gleichen Schwierigkeitsgrad kletterte der Tscheche vom anderen Kletterstern 2013 im spanischen Oliana dem zweiten Wunderkind der Jahrtausendwende, dem Amerikaner Chris Sharma, dessen Langzeit-Projekt vor der Nase weg. Sharma wiederholte die Route wenige Wochen später als Zweiter. Der Franke Alexander Megos sorgte 2013 mit der ersten Onsight-Begehung im glatten elften Schwierigkeitsgrad (Estado Critico in Siurana) für Schlagzeilen und hakte im Frühjahr 2014 den Güllich-Meilenstein Action Directe (11) mal eben in zwei Stunden ab. Und auch der Nachwuchs schläft nicht: Brooke Raboutou kletterte mit gerade mal elf Jahren in Rodellar mit Welcome to Tijuana ihre erste 10+/11-. Ashima Shiraishi bereits mit zehn Jahren den Boulder Crown of Aragorn (Fb 8b) in Hueco Tanks und mit Southern ­Smoke und ­Lucifer in der Red River Gorge gleich zwei Routen im Grad 11-/11. Der Kletterstil der neuen Generation ist kraftvoller, schneller und dynamischer, zum einen durch den Einfluss des Boulderns und zum anderen durch besseres Material und die damit verbundene höhere Sturzbereitschaft.

Vor allem das Hallentraining ermöglicht das Experimentieren mit neuen Bewegungsformen und -stilen: Die alte Dreipunktregel hat ausgedient, in den Boulderhallen sind Parcours-Elemente wie Run-Up-Starts oder Sprünge von Griff zu Griff an der Tagesordnung. Das Gelände ist steiler und die Bewegungen finden verstärkt im dreidimensionalen Raum statt. Schnelles Umschalten zwischen verschiedenen Geländeformen und das Weiterleiten von Körperschwüngen sind hier gefragt. Die 9b-Kandidaten von heute übertragen diese am Plastik erworbenen Bewegungsfähigkeiten an den Fels, und genau darin liegt ihr Erfolgsrezept. Der neue Kletterstil beeinflusst aber nicht nur den Routenbau in Hallen und bei Wettkämpfen, sondern regelt auch die Bevölkerungsdichte an den echten Felsen: Lange und steile Ausdauerrouten sind eher angesagt als kratzige Platten oder senkrechte Wandkletterei und lassen die NewSchool-Kletterer lieber in die spanischen Klettergebiete Oliana, Siurana oder Santa Linya pilgern als in traditionelle Gebiete wie Buoux, Cimai, Verdon oder das Yosemite.
Doch auch an den hohen Wänden dieser Erde geht es immer schwerer, schneller und spektakulärer zu: Ob die Speed-Begehung der Nose durch die Huber Buam (2008), das Free Solo des Weg durch den Fisch durch Hansjörg Auer (2007) oder die erste freie Begehung der legendären Kompressorroute am Cerro Torre durch David Lama und Peter Ortner (2012) – die Grenze des Menschenmöglichen – ob psychisch oder physisch – ist noch lange nicht in Sicht. Die verschiedenen Disziplinen des Kletterns verschmelzen miteinander und bereichern einander.
Unverändert ist jedoch die Tatsache, dass Klettern eine zutiefst individuelle Angelegenheit ist. Für jeden, der sich dem Klettern zuwendet, bedeutet es etwas anderes: Für die einen geht es um Leistung, für andere um die Geselligkeit, ums Reisen oder ums Gipfelerlebnis. Manchen sind schöne Linien wichtig, manche legen mehr Wert auf Stilfragen. Für die einen ist es nur ein Sport, für andere eine Lebensform. »Hüte dich vor dem Sog des gegenwärtigen Klettertrends. Geh hinaus und probiere etwas Neues, sei ein Individuum und suche dir deinen eigenen Weg im Klettern« (FN9), so lautet die Empfehlung von Boulder-Mastermind John Gill. Und egal, welche Früchte der Klettersport in den kommenden Jahrzehnten hervorbringen wird, sie wird auch dann noch Gültigkeit besitzen.

Eva Hammächer

Als Spätberufene im Klettern sind Style-Highlights wie Stirnband und Neonleggings Gott sei Dank spurlos an ihr vorübergegangen. Dafür kam sie gleich zu Beginn in den Genuss viel zu enger Kletterschuhe, die ihr Freund von einer zwei Köpfe kleineren Freundin geliehen hatte. Krämpfe beim Anziehen und Kontaktschmerzen kommentierte er lapidar mit: »Die müssen eng sitzen.« Diese denkwürdige Premiere fand in Fontainebleau statt – in der Gesellschaft ambitionierter Hardmover, deren Interessen sich in einer völlig anderen Galaxie bewegten. Nach dieser traumatischen Erfahrung ist ihr bis heute schleierhaft, wie es danach zu weiteren Felsabenteuern kommen konnte. Irgendetwas muss also dran gewesen sein am Vertikalsport, der sie seitdem nicht mehr losgelassen hat. Wenn sie sich nicht an der Wand nach oben oder unten bewegt, dann schiebt sie als Texterin Buchstaben von rechts nach links.
Online findet man sie unter: www.movingtext.de

 

Aus:

Stephen E. Schmid / P. Reichenbach (Hg.)
"
Die Philosophie des Kletterns
"

Aus dem Englischen von Peter Reichenbach, Roberta Schneider, Blanka Stolz und Daniel Beskos

Hardcover mit Lesebändchen und Titelprägung
224 Seiten | 19,90 Euro
Buch: ISBN 978-3-938539-33-0

E-Book: ISBN 978-3-938539-84-2
Erscheint am 15. September 2014
-> Hier bestellen

 

Fussnoten

1 - Zitiert nach Heinz Zak, »Rock Stars – Die weltbesten Freikletterer«, Bergverlag Rother, München 1995, S. 11.
2 - »rotpunkt – Das Klettermagazin«, Ausgabe 4/94, S. 18.
3 - Alexander Huber und Heinz Zak, »Yosemite«, Bergverlag Rother, München 2002, S. 71.
4 - Reinhard Karl, »Erlebnis Berg – Zeit zum Atmen«, Limpert, Bad Homburg 1980, S. 76.
5 - »rotpunkt – Das Klettermagazin«, Ausgabe 4/94, S. 24.
6 - Heinz Zak, »Rock Stars – Die weltbesten Freikletterer«, Bergverlag Rother, München 1995, S. 209.
7 - Tilmann Hepp, »Wolfgang Güllich – Leben in der Senkrechten«, Rosenheimer Verlagshaus, Rosenheim 1993, S. 60.
8 - Ebd., S. 46.
9 - Zitiert nach Heinz Zak, »Rock Stars – Die weltbesten Freikletterer«, Bergverlag Rother, München 1995, S. 5.

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Di

26

Aug

2014

Ausschreibung: Hamburger Graphic-Novel-Förderpreis "Afkat" 2015

Zum dritten Mal wird der Hamburger Graphic-Novel-Förderpreises "Afkat" ausgeschrieben. Der oder die Gewinnerin werden wieder bei uns veröffentlicht. Der Preis richtet sich an Nachwuchskünstler aus dem Bereich Graphic Novel. Einsendeschluss ist der 12. Oktober 2014.

Der Hamburger Graphic-Novel-Förderpreis "Afkat" wurde im Jahr 2011 von der Kanzlei Dr. Bahr ins Leben gerufen. Dem Gewinner winkt ein Publikationsvertrag und somit die Buch-Veröffentlichung der eingereichten Graphic Novel beim mairisch Verlag. Die (Produktions-)Kosten übernimmt die Kanzlei Dr. Bahr.

Teilnahmebedingungen

 

  • Keine thematische/altersmäßige/genrebezogene Beschränkung
  • Das eingereichte Werk sollte bisher unveröffentlicht sein.
  • Die Einsendung sollte abgeschlossen und vom Umfang für eine Buchveröffentlichung geeignet sein.
  • Einreichung kann per E-Mail (favorisiert) oder per Post erfolgen.
  • Per Mail an: info@dr-bahr.com, Betreff: "Afkat"
  • Per Post an: Kanzlei Dr. Bahr, Stichwort: "Afkat", Mittelweg 41a, 20148 Hamburg
  • Die Verkündung des Gewinners erfolgt im voraussichtlich im Januar 2015 auf der Homepage des Hamburger Graphic-Novel-Förderpreises – die Veröffentlichung der Graphic Novel ist zur Leipziger Buchmesse 2015 geplant.

 Alle weiteren Details gibt es unter www.afkat-foerderpreis.de

 

Die bisherigen Gewinner

Sieger des Graphic Novel-Preises AFKAT 2014.

 

Sohyun Jung
Vergiss nicht, das Salz auszuwaschen

 

"Mein Kind, der Kimchi ist die Seele der koreanischen Kultur.
Alles, was du brauchst, um ihn zuzubereiten, ist ..."          

Kimchi ist das koreanische Nationalgericht, er besteht aus eingelegtem, gesalzenem, chilischarfem Weißkohl. Und Hana, eine junge Koreanerin, die in eine deutsche Großstadt zieht, bekommt nach ihren ersten Erfahrungen mit der fremden Küche schnell Heimweh - und einen großen Hunger auf Kimchi. Doch wie bekommt man in Deutschland guten Kimchi? Genau: Gar nicht. Also macht sich Hana auf den Weg und versucht, Kimchi selbst zuzubereiten. Inklusive Rezept ...

 

 

Sieger des Graphic Novel-Preises AFKAT 2012.


Tilo Richter & Jan Kottisch
Flash Preußen

 

Flash Preußen, der Superheld in Badehose, ist in Aufruhr:
Eine letzte Aufgabe liegt noch vor ihm, bevor er abtreten kann. Zusammen mit seiner Nachbarin Simone begibt er sich in seine Vergangenheit — auf der Suche nach etwas, das er als Kind verloren hat, und das ihn seitdem nicht mehr loslässt.

 

 

 

Sonderpreis des Graphic Novel-Preises AFKAT 2012.

 

Karin Kraemer
Das Mädchen ohne Hände
Illustriert nach einem Märchen der Brüder Grimm

 

Ein armer Müller telefoniert mit dem Teufel, der ihn reich machen will im Tausch gegen das, was hinter seiner Mühle ist. Der Müller, der denkt, es ginge um den Apfelbaum, geht auf den Tausch ein – und weiß nicht, dass seine Tochter auch hinter der Mühle steht. Für sie beginnt nun eine lange Reise.

 



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Mo

25

Aug

2014

Florian Wacker - "Muffe"

Nächste Woche erscheint Florian Wackers Erzähldebüt "Albuquerque". Vierzehn großartige Geschichten, allesamt über einfache Leute - Busfahrer, Bauarbeiter, Maler, Pfleger - die aber alle eine Idee davon haben, was es bedeutet, wirklich intensiv zu leben.

Florian Wacker
Albuquerque
Erzählungen
Hardcover inkl. E-Book!
Leineneinband
160 Seiten | 16,90 €
ISBN 978-3-938539-32-3
1. September 2014

 

-> bestellen im mairisch-Shop

Vorab bringen wir heute hier die Erzählung "Muffe". Viel Spaß!

MUFFE

 

von Florian Wacker

 

Ich kannte Muffe gerade mal ein Jahr, vielleicht warens auch ein paar Tage länger, und jetzt stehe ich hier auf dem kleinen Friedhof am Rand des Stadtparks und rauche hastig noch eine Zigarette, bevor es losgeht. Ich schwitze in meinem Anzug. Der ist geliehen, denn ich gehe eigentlich nie auf Friedhöfe oder zu Hochzeiten. Für so einen Tag auf dem Friedhof ist es auch viel zu heiß. Auf dem Weg bin ich am Freibad vorbeigekommen und hab das Geschrei der Kinder gehört, es roch nach Sonnenmilch und Chlor, und ich dachte, eigentlich passt das gar nicht. Aber jetzt denke ich, dass das gar nicht so schlecht ist, denn warum muss es auf Friedhöfen immer nur regnen und Wind geben, ist doch viel schöner mit Sonne und Vögeln und Schwitzen. Ich stehe hinter einem Baum, die anderen sollen nicht sehen, dass ich rauche und aufgeregt bin und überhaupt nicht weiß, was ich gleich sagen soll, obwohl ich mir einen kleinen Zettel mit Notizen in die Tasche gesteckt hab, wann er geboren wurde und so weiter. Aber irgendwie kommt mir das lächerlich vor, sowas gleich zu sagen, weil das eh jeder von denen weiß. Das ist ja Muffes Familie. Vor der Kapelle versammeln sich ein paar Leute. Das müssen sie sein. Ich trete die Kippe aus, streiche das Jackett glatt, dann gehe ich rüber.

 

Also, eigentlich hab ich ihn gar nicht richtig gekannt, den Michael, vielleicht wars ein Jahr, keine Ahnung. Muffe - ich werd ihn jetzt nicht mehr Michael nennen sondern Muffe, weil wir ihn alle so genannt haben: Muffe, weil das eben sein Name war, eigentlich hat niemand zu ihm Michael gesagt, nie - also den Muffe hab ich in der Funkergruppe kennengelernt. Ich war auch noch nicht lange da und als dann Muffe kam, wusste ich, dass ich auch dabeibleiben werde. Er war ein guter Funker, er hat das immer sehr ernst genommen mit diesem Codex, dem Ham Spirit. Er hat oft davon geredet, dass die Funker Pioniere sind, weil für uns Funker gibt es sowas wie das Internet eigentlich schon immer, wir haben mit Moskau gefunkt, mit Havana, mit Peking, bevor das mit den E-Mails losging.

 

So richtig gekannt hab ich Muffe trotzdem nicht. Wir haben uns zu Beginn nur in der Funkergruppe gesehen, später dann auch im Gambrinus, aber die meiste Zeit eigentlich in der Funkergruppe. Muffe hatte schon ein beträchtliches Fachwissen, er hat ja auch diese Artikel für den Funkamateur geschrieben, er konnte das gut. Jetzt stehe ich in der prallen Sonne und schwitze. Die Familie hat entschieden, dass Muffe verbrannt wird und dann in so ein Urnengrab kommt. Das sieht ein bisschen aus wie ein Regal, wo jede Urne ihre eigene Schublade hat. Davor stehen wir. Eine Kerze brennt, aber das ist kaum zu sehen. Ich habe einen ganz trockenen Mund, ich versuche langsam und deutlich zu sprechen, aber manchmal geht es einfach nicht weiter, dann starre ich auf den Zettel, eigentlich starre ich durch den Zettel hindurch auf den Kies und frage mich, wie das alles kommen konnte, warum es gerade Muffe sein musste, gerade der.

 

Es war nach ein paar Wochen, als mich Muffe zum ersten Mal zu sich nach Hause eingeladen hat. Ich war schon aufs Fahrrad gestiegen, als er sich einfach vor mich gestellt hat und sagte: »Also am Samstag kommst du zu mir. Ich koche was, da sind auch andere Freunde. Und es gibt eine Überraschung.«

 

Also hab ich genickt. Am Samstag hab ich mir dann ein Hemd und eine gute Jeans angezogen und bin mit der Straßenbahn gefahren, denn ich wollte da nicht verschwitzt ankommen. Ich bin auf dem Weg nochmal schnell bei Kaufland rein für eine Flasche Wein, ich dachte, dass man das so macht, wenn man irgendwo zum ersten Mal eingeladen ist, ein kleines Geschenk. Obwohl ich Muffe ja bereits gekannt hab, war ich doch ziemlich aufgeregt, als ich unten vor der Tür stand und gewartet hab, dass er aufmacht. Als ob ich ein Date hätte, was natürlich lächerlich ist, aber so hat es sich angefühlt. Muffe war sehr nett zu mir, hat den Wein genommen und mich seinen beiden Freunden vorgestellt. Vielleicht hätte ich da schon was ahnen können, aber das ist mir erst später eingefallen, als ich um Mitternacht in der Bahn nach Hause saß. Da wurde mir klar, dass die roten Lippen von einem der Freunde gar nicht entzündet waren. Muffe hat Risotto mit Pilzen gemacht. Er hat mir auch sein Zimmer mit der Funkstelle gezeigt, wir haben ein bisschen gefachsimpelt, dann war das Thema aber für den Abend erledigt. Zum Nachtisch gabs Vanillecreme mit Erdbeeren. Muffe hat viel gelacht und viel getrunken. Dauernd ist er auch aufgestanden, um irgendwas zu holen oder wegzuräumen. Irgendwann hat er gesagt: »Jetzt gibts eine Überraschung«, und dann ist er für eine halbe Stunde verschwunden. Ich bin in der Zeit aufs Klo, da hab ich Muffes Stimme aus dem Schlafzimmer gehört, er hat mit einer Petra gesprochen, ich dachte, er telefoniert. Dann kam eine Frau ins Wohnzimmer. Ich hab weder die Klingel gehört noch die Haustür. Die Frau ist zu mir gekommen, sie hat gelächelt und mir die Hand gegeben. Da hatte ich Petras Hand und Muffes Hand gleichzeitig. »Ich bin die Petra«, hat sie gesagt. »Schön, dass wir uns mal kennenlernen.«

 

Der Pfarrer sagt noch ein paar Worte, ein Gebet, aber ich höre nicht mehr hin. Ich kneife die Augen zusammen, merke, dass ich Kopfschmerzen kriege. Wir sind zu fünft, mit dem Pfarrer. Muffes Freunde, die ich an dem einen Abend kennengelernt und danach noch ein paar Mal im Gambrinus getroffen hab, sind nicht da, auch keiner von den Funkern. Ich frage mich, warum sie nicht gekommen sind und dann denke ich, dass das mit dem Tod eben keine einfache Sache ist und jeder anders damit fertig wird. Jetzt ist es auch schon vorbei. Der Pfarrer gibt jedem von uns die Hand und nickt, dann geht er. Ich bleibe noch, setze mich auf eine Bank und zünde mir eine Zigarette an. Auf Friedhöfen ist das Rauchen verboten, aber das ist mir gerade scheißegal. Ich beuge mich vor, starre auf meine Turnschuhe. Ich hatte keine anderen schwarzen Schuhe, außer diesen alten Adidas-Tretern.

 

Jemand setzt sich neben mich, es ist die Frau, die auch bei der Beerdigung war. Sie sagt: »Hallo«, sie sagt: »Ich bin Muffes Schwester Sabine.« Wir geben uns die Hand, ihre Finger sind kalt, meine sind schwitzig.

 

»War schön, was du gesagt hast.«

 

»Ich kannte Muffe ja kaum«, sage ich.

 

Da lächelt sie und schaut zur Seite. »Manchmal kennen die dich am besten, mit denen du nur ein paar Worte geredet hast«, sagt sie, und ich denke, dass sie recht hat. Sie fragt, ob ich noch Lust habe, eine Limo mit ihr zu trinken. In der Nähe gibt es das Stadtpark-Café, dahin gehen wir, setzen uns unter einen der Schirme und bestellen Limo. Sabine kommt mir jünger vor als Muffe, aber ihr Gesicht gleicht dem ihres Bruders, ein schmales, nachdenkliches Gesicht, sie ist jetzt nur etwas bleich. »Für uns alle war das ein Schock«, sagt sie und nippt an ihrer Limo, und ich sage, daß ich das gut verstehen kann. »Mutti hat ihn nur angestarrt«, sagt Sabine. »Sie hat überhaupt nichts zu ihm gesagt, nie wieder. Ich hab ihn gefragt, ob er das wirklich will, ob er sich wirklich sicher ist, und Muffe hat gesagt: Es ist ein beschissenes Gefühl, das ganze Leben in einer Hose zu stecken, die dir nicht passt. Mein ganzes Leben ist falsch herum.«

 

Sabine sieht hinüber zu den Parkwiesen, ich rühre mit dem Strohhalm in der Limo herum. »Ich habs trotzdem nicht verstanden«, sagt Sabine.

 

Ich denke, dass Muffe mein Freund gewesen ist. Vielleicht nicht der allerbeste, vielleicht nicht der, mit dem ich jeden Scheiß hätte durchziehen können, aber er war ein Freund, das steht für mich fest. Verstanden hab ich das mit Muffe und Petra auch nicht ganz, aber ich hab ihn auch nicht damit aufgezogen oder sonst was dazu gesagt, und das hat ihm, glaube ich, gefallen, dass ich ihn behandelt hab wie jeden anderen auch. Wenn wir uns im Gambrinus getroffen haben, dann war er Muffe, der Funker. Dann haben wir durch den Amateurfunker geblättert und unser Bier getrunken. Manchmal bin ich auch zu ihm nach Hause. Meistens hat mir dann Petra aufgemacht und mich kurz umarmt. Sie war etwas schüchterner als Muffe, aber ich mochte sie, weil sie immer gelacht hat, praktisch über alles, was ich gesagt hab. Wir haben oft auf dem Balkon gesessen und geraucht, und Petra hat mir erzählt, wie das geht mit dem Mascara und dem Kajal, und dann hat sie mir ihre Wäsche gezeigt und gesagt: »Da passen bald meine Möpse rein«, und wir haben die Büstenhalter mit Orangen getestet. Zu den Funkertreffen ist Muffe nicht mehr gekommen. Ihm haben die Leute dann doch nicht so gefallen, die waren ihm, glaube ich, nicht genug überzeugt von der Funkerei, die wollten eben oft nur ihr Bier trinken und ein bisschen quatschen. Ich gehe noch hin, aber nur, weil ich es im Andenken an Muffe tue, weil mich der Raum und die Gerüche und das Gequatsche immer auch ein bisschen an Muffe erinnern und ich irgendwie Angst habe, ihn sonst zu vergessen. Natürlich waren alle ziemlich betroffen, aber lang hat die Trauer nicht angehalten, und dann ging es im alten Trott auch schon weiter. Für mich aber hat sich einiges verändert, nicht äußerlich, ich mache weiter das, was ich schon die ganze Zeit mache, aber in meinen Gedanken, in dem, wie ich so durch den Tag gehe. Ich bin nie gläubig gewesen, keine Spur, aber jetzt sitze ich manchmal in meiner Küche oder im Gambrinus und murmle vor mich hin, dann sage ich: »Bitte mach, dass es schnell gegangen ist. Dass Muffe nichts gespürt hat.«

 

Sabine sagt: »Schön, dass wir uns mal kennengelernt haben.« Da nicke ich nur. Jetzt sieht sie Muffe gar nicht mehr so ähnlich, sie wirkt auf einmal größer, ist auch ein bisschen schöner als er. Sie bezahlt unsere Limos und sagt, dass sie jetzt losmüsse, sie habe noch ein paar Dinge zu erledigen, die Wohnung müsse aufgelöst werden, Behördensachen. Ich sage, wenn ich ihr helfen kann, dann solle sie sich bei mir melden, und dann schreibe ich ihr meine Telefonnummer auf ein Stück Serviette. »Ja, danke«, sagt Sabine und reicht mir die Hand. Dann geht sie weg. Ich schaue ihr solange nach, bis sie zwischen den Menschen verschwunden ist, und kurz kommt es mir dann so vor, als verschwinde da gerade Muffe, als sei es Muffe, der geduldig an der Rolltreppe darauf wartet, den richtigen Moment zu erwischen. Ich gehe auch los, in die entgegengesetzte Richtung. Den restlichen Tag kann ich mir schenken, und ich beschließe, nochmal zu der Stelle zu gehen. Es passierte an der Rückseite eines Sportfachgeschäfts. Petra war alleine unterwegs, sie kam von einer Party, sie war schon leicht angetrunken. Aber sie war so glücklich über ihre erste Party, dass sie die Typen gar nicht bemerkte, die ihr schon längere Zeit folgten. Einer trat ihr in den Rücken, und Petra fiel um. Dabei verrutschte ihre Perücke. Die Typen haben sie getreten und angespuckt, einer hat Petra den Rock runtergerissen und sie mit einer Bierflasche vergewaltigt. Dann haben alle auf sie draufgepinkelt und sind abgehauen. Petra ist zwei Tage später auf der Intensivstation wegen der vielen Tritte gegen den Kopf gestorben. Das konnte man alles in der Zeitung lesen, auch, dass sie die Typen schnell geschnappt haben und die jetzt in U-Haft sitzen.

 

An der Hauswand liegen ein paar Blumen, ein Grablicht brennt. Der dunkle Fleck auf dem Pflaster ist noch immer zu sehen, es hat seitdem nicht geregnet. Kurz wird mir übel, aber dann geht es schon wieder. Es ist noch immer sehr warm und ich ziehe das Jackett aus, hänge es mir über die Schulter. Einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, Muffe steht neben mir, er sagt etwas zu dem Fleck auf dem Boden, und dann lacht er oder kichert. »Muffe«, sag ich, »Mensch Muffe«. Ich erschrecke jetzt, weil ich wirklich mit Muffe gesprochen hab. Besser, ich geh jetzt mal. Auf der Straße ist kaum was los, und ich finde, dass das eine angemessene Reaktion ist. Ich werde mich sofort ins Bett legen, eine Limonade trinken und ein bisschen im Funkamateur blättern. Wenn ich nicht zu müde bin, lese ich noch einen von Muffes alten Artikeln, so habe ich dann das Gefühl, dass er zu mir spricht, irgendwie. Und als ich jetzt vor der Tür stehe und nach dem Schlüssel krame, wird mir klar, dass es nicht nur Muffe ist, der mir fehlen wird, sondern auch Petra, und dass heute eigentlich zwei Menschen gleichzeitig in das Urnenregal gestellt wurden, auch wenn der Pfarrer immer nur von einem gesprochen hat.

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Do

19

Jun

2014

Neue Verlage - Teil 5 (E-Books): Frohmann Verlag

Und weiter gehts in unserer Reihe, in der wir neue Verlage vorstellen. Diesmal geht es um den Frohmann Verlag, der ebenfalls voll auf E-Books setzt.

 

Christiane Frohmann (Bild via www.fuenfbuecher.de)
Christiane Frohmann (Bild via www.fuenfbuecher.de)

Christiane Frohmann, die den Verlag 2012 in Berlin gegründet hat, schreibt uns: "Der Frohmann Verlag existiert seit 2012, aber er hatte ein Vorgängerprojekt, das 2011 zusammen mit dem Digitalberater Sascha Lazimbat gegründete experimentelle Imprint eriginals berlin. Bei eriginals ging es eher startupig zu, das Programm war sehr breit und auf kommerzielles Funktionieren hin angelegt, was letztlich nicht ganz so mein Ding war, aber ich habe dabei unglaublich viel gelernt, einfach, indem ich es gemacht habe. Frohmann ist im Vergleich dazu eher ein Liebhaberprojekt, das sich aber trotzdem irgendwann wirtschaftlich rechnen soll. Der Verlag ist in Berlin ansässig, aber mindestens ebenso sehr im Internet."

Was sind Deine Programmschwerpunkte?
Mein verlegerisches Interesse gilt neuen ästhetischen Formen und deren kulturwissenschaftlicher Beschreibung. Ich habe mehrere E-Books mit Twitterbezug im Programm, Titel von Anousch Mueller, Ute Weber, Wondergirl, Anke Fitz, Roman Held und Jan-Uwe Fitz, dann die von Stephan Porombka herausgegebene Poetologie "Über 140 Zeichen" und schließlich den literaturwissenschaftlichen Text "Twitteratur. Digitale Kürzestschreibweisen" von Jan Drees und Sandra Annika Meyer. Es gibt einen Titel über 'Internetkatzen' und bald einen über Selfies. Styles sind ein weiteres Thema, etwa in "Mode und Identität" von Barbara Kurtz. Berlin ist kein ausdrücklicher Schwerpunkt, aber bei meiner mit der Stadt gehenden Arbeits- und Lebensweise zwangsläufig immer wieder ein Thema, so etwa beim alle sechs Monate in einer neuen Version erscheinenden "Berlin Unschick". Überhaupt werden zwischen Blog und E-Book schwebende Anthologien zukünftig formal im Zentrum stehen. Ganz wichtig ist mir auch das Ausloten einer Ästhetik des E-Books, schließlich bin ich Literaturwissenschaftlerin und beobachte meine Kollegen und mich ständig beim Tun. Die von Leander Wattig herausgegebene Reihe Frohmann Perspectives wird sich zusätzlich mit der Zukunft des Publizierens beschäftigen.

Wieviele Leute arbeiten im Team?
Der Frohmann Verlag, das bin ich, Christiane Frohmann, im Wechselspiel mit verschiedenen externen Mitspielern: der klassischen Buchgestalterin Ursula Steinhoff, die im englischen Bath lebt und von dort aus meine Cover designt, der Herstellerin Tina Giesler von Type:area in Bochum und den Vertriebsexpertinnen Ellen Vorac und Janni Froese, die meine Hauptansprechpartner im Berliner Büro von Zebralution sind. Auch das Verhältnis mit meinen Autoren und Herausgebern ist sehr eng, insgesamt ist alles ziemlich freundschaftlich. Wichtig ist auch der Input meines Mannes, der mir oft hilft, im Gespräch blinde Flecke in meinen Überlegungen zu bemerken. Als ausgesprochene Literaturperson neige ich dazu, ab und zu die Businessseite komplett zu vergessen ...

Wie findest Du Deine Autoren?
Ich sehe Leute im Netz, die mich interessieren, durch ihre Themen oder ihren Stil, oft durch beides, das sind dann die schönsten Projekte. Diese Menschen spreche ich dann an und bitte sie um einen ganz bestimmten Text, einen, der schon im Raum steht oder einen, den ich für sie sehe, das ist sehr unterschiedlich.

Was macht Ihr anders als andere Verlage?
Ich setze mich selbst wie einen ästhetischen Filter ein, der Vorhandenes sichtbar macht, verstärkt oder leicht modifiziert. Alles ist höchst subjektiv, vielleicht manchmal auch willkürlich, aber das Ergebnis scheint nicht nur auf mich, sondern auch auf andere Menschen interessant und plausibel zu wirken. Kommerziell ist der Frohmann Verlag bislang kein großer Erfolg, aber produktions- und wirkungsästhetisch könnte ich nicht zufriedener sein.

Warum nur E-Books? Was ist hier Deine Strategie?
Ich denke immer wieder an Print und immer verwerfe ich den Gedanken letztlich wieder. Versionierbare E-Books passen zu meinen offenen, mit dem Flow gehenden Projekten, außerdem geben mir die überschaubaren finanziellen Risiken größtmögliche ästhetische und ideologische Autonomie. Klar, es ist auch ein Differenzierungsmerkmal, die meisten anderen Digitalverlage sind nicht konsequent E-Book only. Was darüber hinaus wichtig ist: Meine Autoren und ich, wir lernen, indem wir auf die Kiste mit den haptischen, duftenden Büchern, auf denen vorne unser Name prangt, verzichten, von unserer singulären Bedeutung abzusehen und so an etwas mitzuwirken, das größer ist als wir. Der "Tod des Autors" nicht als Lippenbekenntnis, sondern als Befreiung. Das finde ich schön.

Aktuelle Neuerscheinungen:
Zuletzt sind die von Stephan Porombka herausgegebenen Twitter-Werkstattberichte in "Über 140 Zeichen", ein halb von Sylvia Lundschien kulturwissenschaftlich geschriebenes, halb von Thomas Götz von Aust zusammenphantasiertes E-Book über Winkekatzen und das von mir herausgegebene offene E-Book "Berlin Unschick" erschienen.

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Do

12

Jun

2014

Neue Verlage - Teil 4 (E-Books): CulturBooks und autorenedition sarabande

Es gibt derzeit ja eine ganze Reihe von Verlagsneugründungen - in den ersten drei Teilen (1, 2, 3) dieser Serie haben wir bereits einige davon vorgestellt. Und auch heute geht es wieder um reine E-Book-Verlage. Diesmal auch ausnahmsweise nicht in Berlin: CulturBooks aus Hamburg und die autorenedition sarabande aus München.

Jan Karsten
Jan Karsten

Der Digitalverlag "CulturBooks – Elektrische Bücher" wurde im Frühjahr 2013 gegründet, im Herbst letzten Jahres ist das erste Programm mit circa 20 Titeln erschienen. Seitdem geht es monatlich weiter. CulturBooks ist Hamburgs erster literarischer eBook-Verlag und wird von Zoë Beck und Jan Karsten betrieben, der uns auch die Fragen beantwortete:

Was sind Eure Programmschwerpunkte?
Wir möchten gute Texte präsentieren, die uns selber begeistern. Der Fokus liegt auf erzählender Literatur, von der Literatur-Literatur bis zum Kriminalroman, wobei uns Genregrenzen nicht wirklich interessieren. Und wir haben auch ein paar Sachbücher und Biografien im Programm.
CulturBooks fußt auf drei Säulen: Originalausgaben, Neuauflagen, Lizenzen. Wir finden Neues, machen Vergriffenes verfügbar und arbeiten mit ausgewählten Verlagen zusammen, für die wir bestimmte Texte als eBook-Lizenzausgaben herausgeben.

Wie viele Leute arbeiten im Team?
Momentan sind wir zu fünft.

Wie findet Ihr Eure Autoren?
Einige AutorInnen kannten wir schon aus der Zusammenarbeit in anderen Zusammenhängen, viele, die wir tollen finden, sprechen wir direkt an – und einige der AutorInnen sind natürlich auf uns zugekommen und haben uns mit ihren Texten überzeugt.

Was macht Ihr anders als andere Verlage?
Um "anders" geht es uns gar nicht unbedingt. Wir sind Fans des Verlagsprinzips, wir glauben an sorgfältige Auswahl, an Pflege und Aufbau eines Gesamtwerkes, an ein intellektuelles und freundschaftliches Kraftfeld; daran, gemeinsam zu arbeiten und gemeinsam zu feiern. Verlage sind auch und gerade in digitalen Zeiten wichtig, wenn Sie ein eigenes Profil entwickeln, sich mit klaren Haltungen in wichtige Branchenthemen einmischen, Autoren und Texte sorgfältig und mit Blick auf Qualität und Relevanz auswählen und sich treu bleiben. Da gibt es dann natürlich schon Unterschiede zu den Verlagen, die ihr Fähnchen in den Wind hängen und auf jede Menge Schrott und me-too-Produkte setzen, weil sich das gut verkauft.

Warum nur E-Books? Was ist hier Eure Strategie?
Uns gefällt, dass man als reiner eBook-Verlag so beweglich ist – und natürlich lassen sich auch die wirtschaftlichen Risiken besser kalkulieren. Wir machen nur Texte, die wir gut finden, und dann gehen wir los und versuchen, andere davon zu begeistern. Wenn ein Text aber trotzdem erst mal nicht so einschlägt, dann verstauben eben nicht auch noch Hunderte Exemplare davon unten im Keller.
Das digitale Publizieren erlaubt einen großen Grad an kreativer Freiheit. Genregrenzen und Seitenzahlen spielen keine so große Rolle mehr. So gibt es beispielsweise viele starke Erzählungen, auch Langerzählungen und Novellen, um die 100 Seiten, die sich als eBook wunderbar machen lassen, die aber als Printversion nur schwer oder gar nicht zu verlegen sind. Da heißt es dann oft: "Toller Text, aber nur 100 Seiten, machen Sie doch einen Roman daraus" – das finden wir absurd.
Und natürlich ist es spannend, die aufregenden digitalen Veränderungen schon sehr früh mitbegleiten und vielleicht auch ein ganz kleines bisschen mitgestalten zu können.

Aktuelle Neuerscheinungen:
Ganz neu sind die literarisch herausragenden Kurzgeschichten der englischen Autorin Pippa Goldschmidt, übersetzt von Zoe Beck: »Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen«. Außerdem freuen wir uns über ein spannendes Projekt des Hamburger Autors Frank Göhre, der in seiner Textcollage "Du fährst nach Hamburg, ich schwör's Dir", anhand von Filmen von Francesco Rosi (»Lucky Luciano«), Jürgen Roland (»Davidwache«) und Klaus Lemke (»Rocker«) ein Bild des Hamburger Stadtteils St. Pauli in den Fünfziger, Sechziger und Siebziger Jahren zeichnet. Und gerade ist bei uns die Neuauflage der einzigen Jörg Fauser-Biografie (»Rebell im Cola-Hinterland«) von Matthias Penzel und Ambros Waibel erschienen – pünktlich zum 70. Geburtstag des Kultautors im Juli.

Max Dorner
Max Dorner

Aus München kommt die autorenedition sarabande - wie der Name schon sagt ein Zusammenschluss mehrerer Autoren, die sei 2013 gemeinsam und selbstbestimmt E-Books veröffentlichen. Beteiligt sind u.a. Max Dorner, Katja Huber, Alex Rühle, Fridolin Schley, Katrin Schuster und Thomas von Steinaecker. Wir haben mit Max Dorner gesprochen:

Was sind Eure Programmschwerpunkte?
Wir verstehen uns weniger als Verlag, als ein Zusammenschluss freier Autoren. Dennoch veröffentlichen wir in Zusammenarbeit mit dem ebookVerlag hey publishing auch ebooks: Texte, die uns am Herzen liegen und die sich aus verschiedensten Gründen nicht für eine Buchpublikation eignen.

Wieviele Leute arbeiten im Team?
Ein harter Kern von ca. fünf Autorinnen und Autoren sowie ein knappes Dutzend weiterer Autoren.

Wie findet Ihr Eure Autoren?
Indem wir sie gezielt ansprechen ...

Was macht Ihr anders als andere Verlage?
Dass wir kein Verlag sind.

Warum ein Zusammenschluss der Autoren? Viele haben ja vorher auch in anderen Verlagen bereits Bücher veröffentlicht - warum jetzt selbst machen? Warum nur als E-Books? Was ist hier Eure Strategie?
Wir glauben, dass es wichtig ist, dass sich Autoren unabhängig von ihren Buch-Verlagen zusammenschließen, um im Netz Aufmerksamkeit zu bekommen. Sowohl mit unserem Blog als auch mit den ebooks wollen wir ein gewichtiges Forum für Autoren werden.

Sind kurze Formate die zeitgemäße Veröffentlichungsform?
Mit einem Wort: absolut.

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Di

10

Jun

2014

Neue Verlage - Teil 3 (E-Books): mikrotext und shelff

In den Teilen eins und zwei unserer Reihe gings ja um Verlagsneugründungen im Printbereich. Ab heute schauen wir uns dagegen einige reine E-Book-Verlage an. Los gehts mit mikrotext und shelff.

Nikola Richter (Foto: Carsten Meltendorf)
Nikola Richter (Foto: Carsten Meltendorf)

Nikola Richter gründete mikrotext Anfang 2013 in Berlin. Im März 2013 erschienen schon die ersten E-Books.

Was sind Eure Programmschwerpunkte?
mikrotext konzentriert sich auf alle Formen der kurzen Lektüren, also Essay, Kurzgeschichte, Reportage, aber auch Online-Literatur, die dann für ein E-Book aufbereitet wird, etwa Facebook-Statusmeldungen wie von Aboud Saeed - "Der klügste Mensch im Facebook. Statusmeldungen aus Syrien" oder Blogtexte wie von Jan Kuhlbrodt - "Das Elster-Experiment. Sieben Tage Genesis".

Wieviele Leute arbeiten im Team?
1-2 Leute: Nikola Richter (Gründung, Leitung, Programm, Lektorat, Marketing, Presse, Vertrieb, Veranstaltungen und alles, was sonst so anfällt), Andrea Nienhaus (Covergestaltung und Herstellung ePub/PDF).

Wie findest Du Eure Autoren?
Persönliches Netzwerk, Empfehlungen von Freunden und Bekannten, Besuche von Veranstaltungen, Magazinlektüre, social-media-Kontakte, Internetrecherche.

Was macht Ihr anders als andere Verlage?
mikrotext veröffentlicht alle drei Monate zwei Ebooks zu einem Thema und stellt somit die Texte in einen größeren, zeitgenössischen Zusammenhang. Wir wollen Debatten! Themen bisher waren: "Freiheit im Netz", etwa mit einem Essay von Alexander Kluge zum digitalen Kulturkonsum "Die Entsprechung einer Oase" oder "Überwachung" mit einer Liebesnovelle von Isabel Fargo Cole aus dem Aktivistenmilieu, die irgendwann im 21. Jahrhundert spielt, und einer persönlichen Reportage von Sebastian Christ, der als Journalist u.a. in den USA und in Afghanistan gearbeitet hat und nach der NSA-Affäre sechs Geheimdiensten Briefe geschrieben hat, um herauszufinden, ob Akten über ihn vorlegen: so anschaulich und verständlich habe ich nirgendwo über die NSA-Folgen gelesen.

Warum nur E-Books? Was ist hier Eure Strategie?
Das E-Book hat so viele Vorteile für einen kleinen neuen Verlag: Der finanzielle Aufwand ist erstmal geringer, die Reichweite größer (über die vielen E-Book-Shopplattformen, auch unabhängige wie minimore.de oder beam), die Lagerung platzsparender (ein Ordner reicht) und die digitale Literaturbranche ist erst dabei, sich zu finden, das heißt, es macht Spaß, sie mitzugestalten, eigene Strukturen zu finden, Strategien auszuprobieren, Neues zu lernen. Wir haben aber auch einen Titel gedruckt im Angebot, die Texte von Aboud Saeed, der jetzt schon in der zweiten kleinen Auflage vorliegt. Im Impressum steht aber "Zuerst erschienen als E-Book": Das E-Book kann also auch ein Testballon für ein gedrucktes Buch sein. Die Strategie ist: Qualität verlegen, Autoren sichtbar machen, den Verlag bekannt machen - und immer mehr Leser und Käufer gewinnen. Denn E-Books sind schön und leicht und praktisch und günstig und dauerhaft und - weil sie nach nichts riechen - unaufdringlich perfekt für jede Lebenslage ob Reise, Bett, Spielplatz oder Wartezimmer.

Aktuelle Neuerscheinungen:
Im Frühjahr 2014 beschäftigt sich mikrotext mit dem Literaturbetrieb, beziehungsweise mit denen, die außerhalb stehen: "Außer Betrieb" war das Thema. Dazu erschien die Anthologie "Irgendwas mit Schreiben. Diplomautoren im Beruf", herausgegeben von Jan Fischer, mit Texten von Autorinnen und Autoren, die auf deutschen Schreibschulen waren, aber nicht hauptberuflich als Autoren von im Feuilleton gefeierten Romanen leben. Darin auch der Essay von Florian Kessler, der nach einem Vorabdruck in der ZEIT im Frühjahr die so genannte Literaturdebatte heraufbeschwört hat, der aber ursprünglich für die mikrotext-Anthologie verfasst wurde.

Und die großartig-schrägen Facebookpostings der österreichischen Kultautorin Stefanie Sargnagel, die bei Daniel Richter in Wien Bildende Kunst studiert und nebenbei im Callcenter arbeitet: "In der Zukunft sind wir alle tot. Neue Callcenter-Monologe".

Fabian Thomas
Fabian Thomas

Ebenfalls frisch in Berlin gegründet ist der Digitalverlag shelff. Fabian Thomas, der bei shelff vorwiegend für Herstellung, Social Media und Vertrieb, aber auch fürs Programm zuständig ist, hat unsere Fragen beantwortet:

Was sind Eure Programmschwerpunkte?
shelf bedeutet ursprünglich: Bücherregal. Unser Verlag bildet nach diesem Prinzip ein Rahmung für ganz unterschiedliche Projekte: Wir hatten bereits einen journalistischen Bericht aus der Türkei von Mely Kiyak, sehr literarische Erzählungen der als Autorin bisher unbekannten Katharina Enzensberger, und gerade veröffentlichen wir einen fünfteiligen Verschwörungsroman von Johannes Thumfart unter dem Titel DER KATECHON.

Wieviele Leute arbeiten im Team?
Wir sind zu viert: Wolfgang Farkas und Andreas Hofbauer, Jörg Reichardt und Fabian Thomas.

Wie findet Ihr Eure Autoren?
Wir sind sehr offen, aber schauen auch, was wir gerade interessant finden und was zu shelff passen könnte. Jeder von uns bewegt sich außerdem natürlich durch seine Arbeit als Lektor, Übersetzer, Fotograf oder Redakteur ohnehin schon in Bereichen, wo viele Buchideen zu finden sind.

Was macht Ihr anders als andere Verlage?
Wir verlassen bekannte Wege und sind experimentierfreudig. Wir haben ein Editor-Modell eingeführt: Da jeder von uns ganz unterschiedlich arbeitet und verschiedene Anknüpfungspunkte zu Autoren hat, kann auch jeder zum Editor werden und sein Buchprojekt bei shelff einbringen. Wir probieren neue Veröffentlichungsmethoden aus, wie bei DER KATECHON, das gerade als fünfteiliger Fortsetzungsroman erscheint. Für diesen Roman arbeiten wir darüber hinaus auch mit einem Musiker zusammen, der für jede neue Lieferung einen eigenen Soundtrack komponiert.

Warum nur E-Books? Was ist hier Eure Strategie?
Wir können vieles ausprobieren, das wir als klassischer Printverlag nicht machen könnten, weil es viel zu riskant wäre. Wir nehmen das Format ernst und sehen es nicht als Zweitverwertungs-Möglichkeit für "richtige" Bücher (was immer das sein mag). Und wir glauben, dass die Entwicklung da gerade erst am Anfang steht.

Aktuelle Neuerscheinungen:
Gerade erscheint der dritte Teil von DER KATECHON, er spielt in Tallinn und setzt die Geschichte des erfolglosen Akademikers Tim Zühlke fort, der nach mehreren Misserfolgen, wieder zu Geld zu kommen, für die Baltische Allgemeine Zeitung eine Reportage über Seltene Erden schreiben soll. Gleichzeitig verstrickt er sich aber in einem Netz düsterer konservativ-revolutionärer Mächte, die nichts Gutes im Schilde führen. Zuvor war er als Live-Rollenspieler im Fränkischen unterwegs, im ersten Teil lernen wir ihn noch als frustrierten Callcenter-Mitarbeiter kennen, der in seiner Freizeit piratisierte E-Books recherchiert. Eine spannende, sehr politische und sehr aktuelle Geschichte!

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Do

05

Jun

2014

Neue Verlage - Teil 2 (Print): Guggolz Verlag und Verlag für Kurzes

Im ersten Teil dieser Reihe haben wir bereits zwei frisch gegründete Verlage kennen gelernt. Auch heute stellen wir kurz zwei Verlage vor, die sich v.a. dem gedruckten Buch widmen: Den Guggolz Verlag und den Verlag für Kurzes.

 

Der Verlagsgründer Sebastian Guggolz mit Maren Baier (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit)
Der Verlagsgründer Sebastian Guggolz mit Maren Baier (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit)

Der Guggolz Verlag, 2014 in Berlin gegründet, widmet sich vor allem Neuausgaben und Wiederentdeckungen von vergessenen Autoren. Die Fragen beantwortete uns Verlagsgründer Sebastian Guggolz.

Was sind Eure Programmschwerpunkte?
Der Schwerpunkt liegt auf Neu- und Wiederentdeckungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie werden in Neuübersetzungen und mit Nachworten präsentiert. Geografisch gibt es auch einen Schwerpunkt, und zwar auf Ost- und Nordeuropa.

Wie viele Leute arbeiten im Team?
Im Büro arbeiten wir zu zweit, neben mir noch Maren Baier (die hauptsächlich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit betreut). Bei der Gestaltung arbeiten wir frei mit einem Gestalter, Mirko Merkel, zusammen, außerdem gehört natürlich noch das Vertreterteam dazu, das sind Nicole Grabert, Christiane Krause und Regina Vogel von indiebook.

Wie findet Ihr Eure Autoren?
Autoren ergeben sich aus der eigenen Lektüre, was einem da immer schon mal aufgefallen ist, aber ich suche nun natürlich auch gezielt nach möglichen Titeln und Autoren, die neu aufgelegt werden könnten. Es gibt fast unerschöpflich viele Autoren, die zu ihrer Zeit nicht angemessen gewürdigt wurden und die heute praktisch nicht mehr bekannt sind. Die wurden dann beispielsweise in den Fünfzigerjahren mal übersetzt, mittlerweile aber kennt keiner mehr den Namen, geschweige denn die Bücher. Und dann schlagen auch noch Übersetzer Autoren vor, das ist natürlich gerade bei bisher noch gar nicht übersetzten Autoren wichtig.

Was macht Ihr anders als andere Verlage?
Wir erfinden natürlich nicht das Verlagsgeschäft neu. Aber wir konzentrieren uns auf ein sehr spezifisches Segment, eben Neuausgaben von vergessenen oder zu kurz gekommenen Autoren. Und dann legen wir noch Wert auf eine besondere, gute Ausstattung der Bücher, wir wollen ein wirklich lesendes Publikum bedienen. Das umfasst dabei sowohl die herstellerische (gutes Papier, schöne Gestaltung), als auch die editorische (Nachwort, Glossar, Neuübersetzungen) Ausstattung.

Veröffentlicht Ihr auch E-Books/Digitale Versionen der Bücher? Was ist hier Eure Strategie?
Das ist noch nicht so ganz entschieden. Wir wollen nicht aktiv auf den digitalen Markt setzen, dazu eignen sich die Titel und unsere ganze Herangehensweise an das Medium Buch auch nicht. Andererseits wollen wir jedoch dem Leser so weit wie möglich entgegenkommen. Deshalb suchen wir gerade noch nach einer guten Lösung, um unsere Bücher auch digital anbieten zu können, wenn das gewünscht ist.

Wann erscheint das erste Programm?
Die ersten beiden Bücher erscheinen im August, rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse. Es ist zum einen Frans Eemil Sillanpää, der einzige finnische Literaturnobelpreisträger, mit seinem großen Epos über Finnland »Frommes Elend« (in Finnland erstmals erschienen 1919), in dem er die sozialen und politischen Umbrüche in Finnland bis zur Revolution 1918, also bis zur Unabhängigkeit des Landes, schildert. Bisher war das Buch nur indirekt über das Schwedische ins Deutsche übersetzt, es wird also die erste Übersetzung direkt aus dem Finnischen sein.
Das andere Buch ist »Zwei Seelen« (erschienen auch 1919) von Maxim Harezki, einem weißrussischen Autor, das die Ambivalenz und innere Zerrissenheit der Beteiligten im Russischen Bürgerkrieg aus weißrussischer Perspektive beschreibt. Dieser Roman war noch nie übersetzt, es ist also eine Neuentdeckung in deutscher Sprache.

Vorschau Herbst
Guggolz_Verlag_Vorschau2014.pdf
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Marion Lili Wagner
Marion Lili Wagner

Schon ein bisschen länger, nämlich seit 2011, betreibt Marion Lili Wagner in Potsdam den Verlag für Kurzes. Wie der Name schon sagt widmet sich das Programm eher den kürzeren Erzählformaten.

Was sind Eure Programmschwerpunkte?
Der Verlagsname ist Programm, also die Kürze: Kurze Geschichten, Erzählungen, Essays, auch Gespräche (kurze natürlich) und neuerdings auch Mikrogeschichten. Das sind Geschichten, die aus nur wenigen Sätzen bestehen. Ich habe auch den Blog mikrogeschichten.de gestartet, um dieses neue  literarische Genre bekannter zu machen.

Wieviele Leute arbeiten im Team?
Ich mache den Verlag alleine und arbeite mit freien Lektoren und Grafikern zusammen.

Wie findet Ihr Eure Autoren?
Die ersten Autoren und ihre Texte kannte ich bereits, andere wurden mir empfohlen, Susanne Henke, die Kurzkrimis schreibt, habe ich auf Twitter entdeckt. Und mittlerweile kommen viele Autoren auf mich zu.

Was macht Ihr anders als andere Verlage?
Auf Anhieb fallen mir zunächst eher die Gemeinsamkeiten mit den anderen Indie-Verlagen ein, z.B. die freundschaftlich-familiäre Atmosphäre mit den Autoren.
Typisch für den Verlag für Kurzes ist die Freiheit, immer wieder Neues auszuprobieren und der Entwicklung des Verlages viel Spielraum zu lassen. Als wir unsere Zettelbiografien-Aktion für die Leipziger Buchmesse 2013 planten, konnte ich im Vorfeld überhaupt nicht einschätzen, wie sie angenommen wird. Dass es dann ein großer Erfolg wurde, hat mich sehr gefreut, aber wenn Ideen scheitern oder sich nicht verwirklichen lassen, finde ich das auch nicht schlimm bzw. denke ich, dass das dazugehört.

Veröffentlicht Ihr auch E-Books/Digitale Versionen der Bücher? Was ist hier Eure Strategie?
Momentan gibt es im Verlag für Kurzes vorwiegend gedruckte Veröffentlichungen, unsere „großen“ Bücher gibt es auch als eBook. Wir werden in etwas weiterer Zukunft sicherlich auch mehr Digitales anbieten, möglicherweise einiges auch ausschließlich digital.

Aktuelle Neuerscheinungen
Ganz neu im Programm sind die Mini-Bücher (14,8 x 9,5 cm, 24-28 Seiten, 3,- Euro), die eine einzelne Geschichte oder viele Mikrogeschichten enthalten.

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Di

03

Jun

2014

Neue Verlage - Teil 1 (Print): kladdebuchverlag und Fuchs & Fuchs Verlag

Und schwupps, fast 15 Jahre rum und mairisch gehört quasi zu den alten Hasen. Aber noch immer werden wir gefragt, wie man heutzutage auf die Idee kommt, einen Verlag zu gründen. Dabei gibt es wirklich eine ganze Reihe brandneuer Verlage, an die wir diese und andere Fragen einfach mal weitergeben. Wir wollen gerne erfahren, was diese Verlage veröffentlichen, was sie anders machen als bestehende Verlage und wer dahinter steckt. In dieser Reihe geben wir einen ersten kurzen Überblick.

Los gehts mit zwei Verlagen, die sich vorwiegend klassisch dem Print widmen, allerdings mit einem sehr gegenwärtigen Zugang: Der kladdebuchverlag und der Fuchs & Fuchs Verlag.

 

Jonas Navid Al-Nemri
Jonas Navid Al-Nemri

Der kladdebuchverlag aus Freiburg, gegründet 2013, wartet mit einem recht ungewöhnlichen Konzept auf: Die Bücher sollen zu großen Teilen aus Crowdfunding finanziert werden.

Mitgründer Jonas Navid Al-Nemri gab uns einige Infos (mehr hier im Interview im literaturen-Blog):

Eure Besonderheiten sind Crowdpublishing, Fairpublishing und Lifestylepublishing. Erklär das mal kurz - was macht ihr hier anders als andere Verlage?
Crowdpublishing verbindet Crowdfunding und Publishing - d.h. wir finanzieren unsere Bücher konsequent mit der Unterstützung der Crowd. Im Grundzügen entspricht Crowdpublishing der Subskription und dem Mäzenatentum. Es entscheidet also nicht mehr nur ein Lektorat oder ein abstrakt kalkulierter Markt, welche Bücher publiziert werden, sondern die Crowd - die Leserschaft - selbst.
Crowdpublishing bietet uns dabei die Möglichkeit weitere ungewöhnliche Wege zu wagen: so fokussieren wir beispielsweise den Verkauf über den inhabergeführten, unabhängigen Buchhandel, produzieren umweltorientiert in der Region (fairpublishing) und setzen auf ein einheitliches, hochwertiges Design mit den besten Papieren bekannter Manufakturen. Unsere Bücher verstehen wir als Ausdruck eines literarischen Lebensstils, ein Buch, das man nicht nur gerne liest, sondern gerne als Accessoire bei sich trägt, anschaut und anfasst.

Wie findet Ihr Eure Autoren?
Hauptsächlich werden wir gefunden, da unser Konzept natürlich großes Interesse weckt. Teilweise bekommen wir jedoch auch Manuskripte über Agenturen zugespielt.

 

Wieviele Leute arbeiten im Team?
Wir setzen auf Co-Working. Unser Team setzt sich so aus einem Kernteam, sowie Freiberuflern und Partnern zusammen. Momentan arbeiten 14 Leute gemeinsam an den verschiedenen Buchprojekten.

 

Aktuelle Neuerscheinungen:
"Berlin - Geschichte in Geschichten“ hat gerade ein erfolgreiches Funding hinter sich. Es erscheint in Kürze.

Kristina Kienast
Kristina Kienast

Der Fuchs & Fuchs Verlag ist gerade mit seinen ersten beiden Veröffentlichungen aufgetreten. Gegründet wurde er Anfang 2014 in Berlin von Kristina Kienast.

Mehr zum Verlagskonzept auch auf ihrer Webseite.

Was sind Ihre Programmschwerpunkte?
Zeitgenössische Belletristik. Aber auch Geschenk- und Sachbücher sind für die Zukunft in Planung.

Wieviele Leute arbeiten im Team?
Das Team bin ich zunächst allein. Unterstützt werde ich durch freiberufliche Lektoren und selbstständige Handelsvertreter und eine Presseagentur.

Wie finden Sie Ihre Autoren?
Das Startprogramm rekrutierte sich aus Autoren aus dem weiteren Bekanntenkreis. Zunehmend melden sich Autorinnen und Autoren, die durch die Neugründung auf mich und Fuchs & Fuchs aufmerksam geworden sind.

Was machen Sie anders als andere Verlage?
Ich will es gar nicht unbedingt anders machen. Das nimmt sich vielleicht jeder vor, am Ende wirkt’s vielfach doch gleich. Ich mache es einfach – und vor allem aus persönlicher Überzeugung.

Veröffentlichen Sie auch E-Books/Digitale Versionen der Bücher? Was ist hier Ihre Strategie?
Alle Titel erscheinen auch als E-Books. Allerdings sollen das Markenzeichen von Fuchs & Fuchs schön gestaltete Bücher sein, bei denen Inhalt und Form sorgfältig aufeinander abgestimmt sind – und zwar in gedruckter Form. Was das E-Book betrifft, ist die technische Entwicklung noch längst nicht ausgereift, genauso die Handhabung. Das E-Book befindet sich noch in seiner Wiegenzeit, das Ende der Fahnenstange ist längst nicht erreicht. Ich beobachte die Entwicklung, bringe auch E-Books heraus, aber der Schwerpunkt meiner verlegerischen Tätigkeit liegt in inhaltlich ansprechenden und liebevoll gestalteten Büchern, die in einer digitalen Gesellschaft erst recht ihren Mehrwert zur Geltung bringen können.

Aktuelle Neuerscheinungen:

 

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Sa

22

Mär

2014

mairisch goes Indiebookday 2014!

Mit dem Indiebookday haben wir ja echt was angerichtet. Wow. Danke Euch allen fürs Mitmachen.

 

Auch die mairisch-Gang hat sich natürlich Bücher besorgt - so sieht's aus:

 

Judith von Ahn:

"In Almas Augen"
von Daniel Woodrell

(Übersetzung: Peter Torberg)

 

erschienen bei Liebeskind

Stefanie Ericke-Keidtel:

"Eine Tonne für Frau Scholz"
von Sarah Schmidt

 

erschienen im Verbrecher Verlag

Blanka Stolz:

2 Serien, 8 wunderbare Bücher

alle erschienen bei Readux Books

Karen Köhler:

"Jane, der Fuchs & ich"
von Fanny Britt und Isabelle Arsenault (Übersetzung: Ina Pfitzner)


erschienen bei Reprodukt

Annegret Schenkel:

"Gegen Ende des Morgens"
von Michael Frayn

(Übersetzung: Miriam Mandelkow)

 

erschienen bei Dörlemann

Carolin Rauen:

"Was gewesen wäre"
von Gregor Sander


erschienen bei Wallstein

Peter Reichenbach:

"Mensch wie Gras wie"
von Dietmar Dath und Oliver Scheibler

 

erschienen im Verbrecher Verlag

Daniel Beskos:

"Die Revolution war im Fernsehen"
von Alan Sepinwall


erschienen bei Luxbooks

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Fr

14

Feb

2014

Lyrik hinter Gittern - Dorian Steinhoff in der JVA Schwerte

Dorian Steinhoff (Foto: Christopher Braun)
Dorian Steinhoff (Foto: Christopher Braun)

Dorian Steinhoff gibt einen Poetry-Slam-Workshop in der Justizvollzugsanstalt. Hier erzählt er, wie es war.

 

Ich solle was Blaues anziehen, riet mir ein Kollege, der schon öfters in Haftanstalten gearbeitet hatte. Die Knastuniform ist meistens blau. Dunkelblaue Jeans, dunkelblauer Pulli. Das Branding besteht aus einer aufgenähten Nummer. Wenn du was Blaues trägst, wirkt das gleich kollegial, sagte er. Ich trug tatsächlich ein dunkelblaues Hemd, als ich für den ersten Workshoptermin nach Schwerte fuhr, an der Pforte der JVA meinen Ausweis und mein Telefon abgab und durch einen Metalldetektor ging, der bereits hinter einer abgeschlossenen Tür lag. Jede Tür, die ich mit einem Mitarbeiter der JVA durchschritt, war abgeschlossen und wurde direkt hinter uns wieder abgeschlossen. Ein Flur im Knast ist ein Ort zwischen zwei abgeschlossenen Türen. Hätte die Beklemmung, die ich beim ersten Durchlaufen empfand, eine Farbe, es wäre: Dunkelblau. Ein tiefes und kaltes Dunkelblau, das einen frösteln lässt, wenn man es zu lange anschaut.

Anfahrt auf die JVA Schwerte (Foto: Dorian Steinhoff)
Anfahrt auf die JVA Schwerte (Foto: Dorian Steinhoff)

Die Heinrich-Böll-Stiftung NRW hatte mich beauftragt, einen Poetry-Slam-Workshop in der Justizvollzugsanstalt Schwerte zu leiten. Drei Termine, immer am Dienstagnachmittag. Schreiben, performen, zuhören, über Texte reden. An einem vierten Termin, abends, ein von mir moderierter öffentlicher Poetry Slam in der Knastkapelle. Häftlinge als Poeten auf einer Bühne, vor hundert Zuschauern aus Schwerte. So weit der Plan. Ich hatte mir nur eine Sache vorgenommen: Unvoreingenommenheit. Alles, was ich über die Teilnehmer des Workshops wusste, war, dass sie Verbrechen begangen hatten und dafür verurteilt worden waren. Ein Mensch, der ein Verbrechen begeht, ist etwas anderes als ein Verbrecher. Er bleibt Mensch, er wird nicht zu seiner Tat.


Wenn man eine JVA betritt, spürt man, was es heißt, die komplette Autorität über sein Leben abgeben zu müssen. Wie es sich anfühlen muss, zu einem Ausscheidungsprodukt zu werden, das für immer eine Nummer nicht nur an den Pullover genäht, sondern auf die Stirn tätowiert hat. Diese Nummer unsichtbar werden zu lassen, für mich und für die Teilnehmer selbst, darum ging es, das war die erste Herausforderung, der Ausgangspunkt für die weitere Arbeit.


Und dann war es ganz einfach, ich musste gar nichts machen. Ich saß nur da, die Männer kamen in den für uns reservierten Raum in der Knastschule, schüttelten mir die Hand und stellten sich vor. Sie boten mir Kaffee und Kekse an. Man sah ihnen an, dass sie selten nach draußen gehen. Würde ich einen alten Freund wiedertreffen, dessen Gesicht so aussieht wie die Gesichter dieser Männer, würde ich fragen, ob es ihm grade nicht gut geht, ob etwas Schlimmes passiert ist. Aber aus diesen müden und blassen Gesichtern erfuhr ich nur Offenheit, Freundlichkeit und Neugier.


Fast alle Häftlinge brachten fertige Texte mit in den Workshop oder erzählten davon, dass sie während der Haftzeit viel schreiben. Tagebuch, Memoiren oder Raps. Einer der Männer gab sich als Ghostwriter von Kool Savas zu erkennen. Meine Arbeit bestand als nächstes daraus, die Workshopteilnehmer mit dem Format Poetry Slam vertraut zu machen, das die meisten von ihnen nicht kannten. Ich erzählte die Herkunfts- und Verbreitungsgeschichte von Poetry Slam in den USA und Deutschland, wir hörten uns viele Slam-Texte auf CD an und analysierten ihre Form, ihren Inhalt, die Vortragsweise. Wir erarbeiteten uns einen eigenen Begriff von Slam Poetry.


Die Teilnehmer wollten während der Workshopnachmittage keine Zeit zum Schreiben. Sie sagten, Zeit zum Schreiben hätten sie genug. Also konzentrierten wir uns auf die gemeinsame Arbeit an bestehenden Texten und ihren Vortrag. Als Performanceübung zum Aufwärmen lasse ich die Teilnehmer meiner Workshops Emotionen auf Zettel schreiben, diese Zettel sammle ich ein und lasse dann  jeden einen ziehen. Die Aufgabe lautet: Trage das ABC in der von dir gezogenen Emotion vor, zum Beispiel traurig oder aggressiv. Ein Teilnehmer zog „Freude“ und fragte: Was soll ich machen, wenn ich vergessen habe, wie sich anfühlt, was auf meinem Zettel steht?


Ansonsten verbrachten wir tolle Stunden, ich zumindest empfand es so. Wir schafften es, mit Vertrauen und produktiv zusammenzuarbeiten. Wir erprobten Techniken, die helfen können, Nervosität zu bekämpfen. In einer Übung stand jeweils ein Teilnehmer als Marionette vor der Gruppe und alle zogen so lange an ihm herum, bis er für sich eine sichere und gute Bühnenhaltung gefunden hatte. Diskussionen über einzelne Aspekte von vorgetragenen Texten drifteten immer wieder ab und wurden zu philosophischen Gesprächskreisen. Wir sprachen zum Beispiel lange über die Angst vor dem Tod, über Endgültigkeit. Ich hatte das Gefühl, die Häftlinge genossen es, Zeit und Raum dafür zu haben, sich mit Dingen zu beschäftigen, die sie umtrieben, und dadurch einen Teil der Autorität über ihr Leben zurückzugewinnen. Am Ende dieses Prozesses hatte jeder mindestens einen fertigen Text und das Rüstzeug, um ihn wirkungsvoll vor einem Publikum vorzutragen.


Die Nervosität vor dem abschließenden Auftritt war bei allen zu spüren. Bei Teilnehmern, Zuschauern, Begrüßungsrednern. Und auch mein Herz schlug sehr heftig, als es losging. Niemand konnte einschätzen, was passieren würde. Es waren wirklich 100 Zuschauer gekommen, um sich die Texte der Häftlinge anzuhören und sie zu beklatschen. Die Anstaltsleitung hatte sogar erlaubt, dass von jedem Insassen zwei Angehörige kamen. Ein Teilnehmer saß nach seinem Auftritt neben seiner Frau in der ersten Reihe und hielt für den Rest der Veranstaltung ihre Hand.
Es funktionierte, die Stimmung war gut, die Texte waren gut, die Publikumsjury gab anständige Wertungen ab. Die Häftlinge erfuhren etwas, das in ihrem Leben in der JVA abwesend ist: Anerkennung. Ich glaube, nichts hilft diesen Männern mehr dabei, einen Weg zurück in die Mitte derer zu finden, die vor der Bühne saßen und ihnen Applaus spendeten, als Anerkennung. In der Pause gab die Knastküche für alle Essen aus. Häftlinge und Zuschauer standen gemeinsam in der Schlange und warteten darauf, dass man ihnen eine unglaublich große Portion Reis mit irgendeiner roten Soße auf den Teller klatschte. Anschließend aßen alle zusammen in der Kapelle. Landtagsabgeordnete neben verurteiltem Drogendealer neben Psychologiestudentin. Die Knastkapelle der JVA Schwerte war zu einer Schnittstelle geworden. Und über allem schwebte ein sehr großer Begriff, der in diesem Moment erfüllt war: Inklusion.


Am Ende gewann jemand den Poetry Slam, es gab eine Zugabe und Geschenke und viele Danksagungen. Und ganz am Ende gewannen alle, die teilgenommen und zugeschaut haben, gemeinsam mit denen, die „Lyrik hinter Gittern“ ermöglicht haben. Das Licht in der Knastkapelle war an diesem Abend hell und warm und gelb.

 

Video vom Siegertext:

 

 

 

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Fr

10

Jan

2014

Spaceman Spiff - "Endlich Nichts"

Von Daniel Beskos

 

Sich nicht entscheiden zu müssen, schon gar nicht für ein vorgefertigtes Leben, wie es alle führen – das war schon von Anfang ein Thema bei Hannes Wittmer alias Spaceman Spiff.

"Egal kann so schön sein, und ich hoffe, wir sind bald wieder so schön egal", hieß es auf dem Debütalbum "Bodenangst" (2009). In einem Rutsch wurde diese Platte damals aufgenommen, an einem Tag im Studio hintereinander weg eingespielt, eigentlich eher aus Versehen, dieser allererste Alleingang des damals erst 23-jährigen Würzburgers. Und auch wenn die Instrumentierung mehr als spärlich war, eigentlich nur eine akustische Gitarre, dazu Gesang, so war jedem schon nach dem ersten Hören sofort klar, dass hier einige richtig große Songs versammelt waren. Dass hier einer singt, der nicht nur etwas zu erzählen hat, sondern dies auch noch auf ganz besondere Art und Weise kann. Das lag natürlich auch an dem untrüglichen Gespür für große Melodien, das sich bis heute durch die Musik von Spaceman Spiff zieht. Vor allem aber lag es an den wunderbaren Texten. Texten, die in ihrer Stärke und Ausdruckskraft unter den Songwriterkollegen eigentlich ihresgleichen suchen. Die perfekt die Gratwanderung zwischen Melancholie, Ernsthaftigkeit, Glück und ein klein wenig Pathos beherrschen. Und die so voller Lieblingssätze sind, dass man sie "sofort twittern und dafür alle Grimme-Online-Preise für die nächsten zwanzig Jahre gewinnen könnte", wie es in einer Rezension heißt.

 

Und das Mädchen macht die Augen zu und lauscht:
"Hey hör mal her,
merkst du nicht, das ist die Autobahn, die rauscht
und nicht das Meer"
und sie hat Recht
das Leben schlägt dir ins Gesicht
die Nase blutet
die Beine nicht
("Gedankenstricke II")

 

Auf dem zweiten Album "und im fenster immer noch wetter" (2011) holte sich Spaceman Spiff Verstärkung und wurde zur Band. Mit Felix Weigt (Die höchste Eisenbahn) und Jonny König ("Stoiber on drums") haben sich ihm dabei zwei Ausnahmemusiker angeschlossen, die mit ihrer Mischung aus Percussion, Streichern, Klavier, Bässen und Xylophon oftmals vergessen lassen, dass hier nur ein Trio am Werk ist. Und während alles auf Album Nummer 1 noch wie ein Versehen wirkte, wie eine tolle Sache, die man aus dem Handgelenk schüttelt, hinterher aber nicht mehr weiß, wie man das gemacht hat – auf Album 2 wurde klar, hier singt einer, der weiß, was er tut. Der es schafft, genau das in Worte zu fassen, was einem selbst als Gedanken oftmals durch die Lappen geht. Der mit einfachen Texten die ganze Kompliziertheit des Lebens aufzeigt, dessen Texte aber für jeden sehr individuell erlebbar sind, ganz einfach und direkt. Und der das Ganze dabei auch noch in große Melodien verpacken kann.

Du und ich und eine Schneeballschlacht
wir bewerfen uns mit Schnee von gestern
und du wirfst wie ein Mädchen
aber triffst, wo es weh tut
("Schnee")

Dann begann eine aufregende Zeit mit über 130 Konzerten, Touren mit Band und allein, gemeinsamen Auftritten mit Autoren in Deutschland, den Niederlanden, Island, Polen, Österreich, der Schweiz, einem Preis fürs beste Bühnenprogramm 2012 und begeisterten Kritiken in Musikpresse und Feuilleton:

"Die Songs klingen so aufrichtig, so nachdenklich, so nackt und direkt, dass es einem schier den Boden unter den Füßen wegreißt." (Szene Hamburg)

"Es sind diese Zeilen, die Spaceman Spiff in ein eigenes Sonnensystem katapultieren." (Rheinische Post)

"Spaceman Spiff singt Sätze, die man in Neonrot an alle Fassaden sprayen will." (U-MAG)

"Wie verheulte Augen am nächsten Morgen. Berührend ohne Kitsch." (INTRO)

"Da muss auch die härteste Baseballschläger-Type bestimmt mal ein Tränchen verdrücken.  ... und im fenster immer noch wetter lässt nämlich keinen einfach so entkommen." (OX (9 von 10 Punkte))

 

Spaceman Spiff - (c) Waldemar Salesski
Spaceman Spiff - (c) Waldemar Salesski

Im Anschluss entzog sich Hannes Wittmer dann erstmal dem Rummel und seiner Rolle als Spaceman Spiff und ging für einige Monate nach Neuseeland. Wo man Bergsteiger sein kann. Wo die Notizbücher weiß und leer sind. Und wo man viel über sich und seinen Blick auf die Welt lernen kann: "Dieser Nebel ist nur Milchglas, und selbst der Ozean ist nur ein großer See."
Dort, am Ende der Welt, sind auch die meisten der neuen Songs entstanden. Sie alle erzählen von dem Thema, dass sich schon immer als roter Faden durch die Arbeit von Spaceman Spiff zieht: Eigentlich haben wir hier alle ein traumhaftes Leben – und doch tun wir uns schwer, sind dem Stress nicht gewachsen, dem Erwartungsdruck oder haben schlicht keine Lust, den für uns vorgezeichneten Weg zu gehen. Und in den Momenten, in denen es die tägliche Mühle zulässt, wird uns auch immer klarer, wonach wir uns sehnen: Nach weniger. Nach einer einsamen Wanderung im Niemandsland. Nach der Ruhe selbst. Danach, dass die Zeitverfluggeschwindigkeit wieder langsamer wird. Dass wieder mehr Zeit und Raum wird, für gute Freunde, tiefe Gespräche, echte Gefühle.

Im Januar 2014 erscheint nun das dritte Album. Es enthält 12 sehr gute Freunde. Oft geht darin die Sonne auf. Manchmal geht sie auch unter. Ab und zu fällt etwas Regen, allerdings langsamer als sonst. Es wird gegen Wände gelaufen, in Löcher gefallen und wieder rausgeklettert. Manchmal ist man am Strand, dann ist es ganz besonders schön, auch mit Sand in den Schuhen. Hin und wieder knallen Schlagzeug und Streicher rein, dann wird es auch schnell mal hymnisch. Meistens bleibt es aber ganz nah bei uns, ganz nah am Ohr. Eins ist klar: Dieses Album wird uns gut durchs nächste Jahr bringen. Es heißt "Endlich Nichts".

 

Und egal, wie oft man diese Songs gehört, egal, wie oft man seine Konzerte besucht – eigentlich kann man, wenn man Hannes Wittmer trifft, nicht glauben, dass aus diesem freundlichen, bescheidenen, manchmal auch schwer witzigen jungen Mann diese ernsthafte, tiefe, welthaltige Musik eines Spaceman Spiff kommen soll. Und vielleicht ist es einfach so wie bei Calvin, dem 6-jährigen Titelhelden aus dem Comic Calvin und Hobbes: Er ist nur ein ganz normaler kleiner Junge. Aber manchmal malt er sich aus, ein Astronaut zu sein. Dann reist er zu fernen Planeten und nennt sich Spaceman Spiff.

 

Spaceman Spiff - "Endlich Nichts"
CD/LP/DL

12 Songs

Erscheint am 10.01.2014 bei Grand Hotel van Cleef in Kooperation mit dem mairisch Verlag.

CD/LP bestellen:

http://shop.mairisch.de/mairisch-gesamtprogramm/endlich-nichts/

Reinhören via Spotify:

Gestaltung und Foto: Denise Henning
Gestaltung und Foto: Denise Henning

Spaceman Spiff auf Tour (mit Band):

17.01. Münster | Amp
18.01. Haldern | Haldern Pop Bar
19.01. Essen | Zeche Carl
20.01. Bielefeld | Bunker Ulmenwall
21.01. Hannover | Lux
22.01. Berlin | Magnet
23.01. Leipzig | Nato
24.01. Würzburg | Cairo
25.01. München | Ampere
26.01. Wien | B72
28.01. Stuttgart | Keller klub
29.01. Wiesbaden | Schlachthof
30.01. Köln | Blue Shell
31.01. Hamburg | Übel & Gefährlich
01.02. Lüneburg | Salon Hansen

 

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Mi

06

Nov

2013

Was macht eigentlich ein Verlag? Teil 7: Finanzen

Von Daniel Beskos

In den bisherigen Teilen dieser Reihe haben wir viel davon gesprochen, was Verlage für ihre Bücher und Autoren tun können, welche Arbeiten sie im Lektorat und Korrektorat, bei der Gestaltung, Herstellung, Pressearbeit und den Veranstaltungen leisten und für die Autoren übernehmen.

Ein Thema kam bislang aber nur am Rande zur Sprache: Geld.

 

Im Zuge der Selfpublishing-Debatten taucht ja oft der Vorwurf auf, Autoren würden an ihren Büchern zu wenig verdienen und die „Verwerter“ (also z.B. die Verlage) zu viel. Das ist, offen gesagt, Quatsch. Denn natürlich gibt es einige wenige Autoren, die mit ihren Büchern, die sie z.B. über das Selfpublishing-Programm von Amazon veröffentlicht haben, sehr erfolgreich sind und eine Menge Geld verdienen (aber eben nur die wenigen an der Spitze). Die meisten Autoren verdienen daran aber nicht sehr viel, UND sie müssen auch noch die ganze Arbeit selbst erledigen.

Und auch im klassischen Print-Bereich verblüffen uns immer wieder Aussagen darüber, wie viel Verlage denn angeblich verdienen. Wenn wir etwa erzählen, dass „Räuberhände“ Schullektüre an allen Hamburger Schulen ist, bekommen wir immer wieder zu hören, dass wir uns ja jetzt um nichts mehr Sorgen machen müssten. Abgesehen davon, dass es in diesem Fall um eine Lizenzausgabe geht, an der wir nur sehr wenig verdienen, zeigen uns solche Aussagen, dass denjenigen offensichtlich nicht bekannt ist, wie sich ein Buch errechnet, wer wie viel daran verdient und was am Ende für Autor und Verlag tatsächlich übrig bleibt.

Update dazu: Sebastian Wolter hat im Verlagsblog von Voland & Quist letztes Jahr schon mal eine ganz ähnliche Rechnung aufgemacht: www.voland-quist.de/verlagsblog/buchkalkulation-was-verdienen-autor-und-verlag-an-buchern/

 

Kalkulieren wir's mal ...

Deswegen zu allererst einmal eine beispielhafte Buchkalkulation für einen Titel im mairisch Verlag, Hardcover, 224 Seiten, Startauflage 2.000 Stück, mit Lesebändchen, bedrucktem/farbigem Vorsatzpapier, Titelprägung, gutem Papier für innen und außen usw.:

 

18,90 Euro Bruttoladenpreis

abzgl. 7% Mwst.

= 17,66 Euro Nettoladenpreis

- 8,83 Euro Buchhandelsrabatt (Barsortiment, 50%)

- 0,80 Euro Kosten Auslieferung

- 0,35 Euro Honorar Gestaltung & Satz

- 0,12 Euro Korrektorat

- 3,00 Euro Herstellung/Druck

- 1,77 Euro Autorenhonorar

- 0,25 Euro Werbung

- 0,25 Euro Portokosten/Presseversand

----------------------

= 2,79 Euro Einnahmen Verlag

 

Dazu noch ein paar Anmerkungen:

  1. Buchhandelsrabatt: Die Buchhandelsrabatte liegen üblicherweise zwischen 30-50%. Die Barsortimente (also der Großhandel) bekommen 50%, zum Teil auch mehr. Nun haben wir einen Barsortimentsanteil von ca. 85%, das heißt, ca. 85% aller mairisch-Bücher, die über den Buchhandel verkauft werden (dazu gehört auch Amazon) gehen übers Barsortiment. Wir nähern uns also im Durchschnitt fast den 50% Rabatt an. Das ist für langjährige Verleger, die es aus den 70er und 80er Jahren noch anders kennen, vielleicht ein Schock, damals waren 20-35 Prozent im Handel keine Seltenheit. Für uns sind die 50% im Zwischenhandel und unser hoher Barsortimentsanteil allerdings einfach ein Fakt, wir kennen es kaum anders. Die Leute bestellen nun mal zunehmend über Amazon und gehen weniger in die Buchhandlungen.
  2. Herstellung/Druck: Wir könnten die Kosten hier sicher etwas senken, z.B. indem wir weniger aufwendig herstellen und im Ausland drucken würden. Aber wie ich im Teil 3 über Herstellung beschrieben habe, gibt es einige Gründe, warum wir das nicht tun möchten. Daher müssen wir hier eben so hohe Kosten einplanen (die wohlgemerkt von unserem Gewinn abgehen, nicht von dem des Autors). Und natürlich könnte man die Kosten ebenfalls senken, wenn man höhere Auflagen drucken würde, aber mehr dazu weiter unten.
  3. Autorenhonorar: Hier sind 10% gerechnet. Das ist für eine deutschsprachige Originalausgabe Belletristik im Hardcover üblich, wird aber nicht von allen Verlagen immer gleich so gezahlt, sondern oft erst ab einer bestimmten Verkaufszahl. Staffeln a la 8% ab 1. verkauftes Exemplar / 9% ab 20.000. / 10% ab 40.000. habe ich zumindest schon gesehen. Bei Taschenbüchern ist es übrigens fast nur die Hälfte, da erhält der Autor (vom eh schon niedrigeren Ladenpreis) oft nur ca. 6-7%.
  4. Eine reine E-Book-Kalkulation wäre übrigens gar nicht so anders, die Kosten sind im Grunde fast identisch. Das liegt vor allem daran, dass man ehrlicherweise fast alle Projektkosten (also z.B. Covergestaltung, Lektorat, Übersetzung, Korrektorat, Presse, Werbung, Auslieferung usw.) in die Rechnung einbeziehen muss, genau wie beim Print-Buch. Nur die Herstellungs-Kosten sind beim E-Book niedriger, und auch die Rabatte liegen etwas niedriger, eher bei 40% inkl. Auslieferung. Allerdings ist das ein viel kleinerer Markt, man verkauft derzeit nur etwa 10% der Stückzahlen, die man im gedruckten Buch verkauft, außerdem ist der Ladenpreis niedriger und die Tendenz geht zu weiter sinkenden E-Bookpreisen – und nicht zuletzt darf man auch nicht vergessen, dass die Mehrwertsteuer bei E-Books 19% beträgt, die gehen also auch noch ab. Eine reine E-Book-Kalkulation wäre daher derzeit fast immer noch ein dickes Minus.

 

Nun das Entscheidende: Von den 2,79 Euro, die in unserer Rechnung oben für den Verlag übrig bleiben, müssen alle weiteren Kosten bezahlt werden – also unsere Löhne und Gehälter, die Buchmessen, unsere Buchhandelsvertreter, die Büromiete, alle Fahrtkosten, Porto, Büromaterialien, Computer, Telefon- und Internetkosten, Webseite und so weiter.

 

Wenn man nun die gesamte Auflage aus der obigen Kalkulation verkaufen würde (2000 Stück abzüglich der ca. 200 Frei- und Presseexemplare, also 1800 Stück), dann hätte man einen Projekt-Gewinn von 5022 Euro, vor Steuern wohlgemerkt.

 

Jetzt kommt das große Verleger-Aber: Man verkauft ja nur in den seltensten Fälle alle gedruckten Bücher. Das Risiko, was man als Verlag eingeht, ist hier also noch gar nicht mit eingerechnet. Und wenn doch mal die ganze Auflage verkauft wird, muss man eine zweite Auflage nachdrucken, damit das Buch weiterhin lieferbar bleibt, und das ist mit erneuten Kosten verbunden. Trotzdem ist es natürlich das Ziel, mehr Auflagen zu verkaufen als nur die erste, denn erst dann rechnet sich der Buchverkauf für uns als Verlag. Glücklicherweise klappt das hin und wieder.

 

Tja, verkaufen wir halt mehr davon!

Ein Schluss könnte nun natürlich sein: Wir müssen einfach mehr Bücher verkaufen. Klingt logisch. Verfolgt man aber nun die Aussagen von Autoren und Verlegern in den letzten Jahren, oder auch das, was auf Podiumsdiskussionen und Messen so zu hören ist, dann kommt man zu dem Schluß, dass die Auflagenhöhen derzeit allgemein zurückgehen. Es mag daran liegen, dass es viel mehr Neuerscheinungen gibt als früher, dass andere Medien wichtiger werden oder dass die Leute weniger lesen – aber es scheint jedenfalls so zu sein, dass sich die meisten Bücher in der Sparte „Junge Belletristik“ inzwischen nur noch wenige Tausend Mal verkaufen, viele noch nicht mal das.

 

Dann machen wir die Bücher halt teurer?

Eine Maßnahme, mehr Geld für uns und die Autoren zu erwirtschaften, wäre auch, den Ladenpreis hochzusetzen. Und in der Tat kosten inzwischen fast alle neuen Belletristik-Hardcover über 20,- Euro. Wir haben da noch etwas Hemmungen, unser Publikum ist eher jung und nicht so zahlungskräftig, da sind 19,90 Euro schon das Äußerste und die 20 immer noch eine Art Schallgrenze.

 

Andere Einnahme-Quellen

Daneben gibt es noch einige weitere Einnahmequellen, und das muss es auch, sonst könnten wir als Verlag gar nicht überleben. Hin und wieder verkauft man mal eine Taschenbuch- oder Hörbuch-Lizenz, lizensiert eine Kurzgeschichte an den Hörfunk, bekommt Einnahmen von der VG Wort, Theater-Tantiemen, gewinnt einen Preis oder bekommt Förderungen (z.B. fördert die Film und Medien Stiftung NRW unsere Hörspielreihe „pressplay“; die Hamburgische Kulturstiftung und die Kulturbehörde Hamburg fördern unsere Lesereihe PILOTEN; Förderung für Bücher bekommt man normalerweise aber keine, schließlich werden Verlage, im Gegensatz etwa zu Theatern, als reine Wirtschaftsunternehmen gesehen).
Dazu kommen kleine Nebeneinnahmen, z.B. aus Online-Hörbuch-Portalen oder durch die E-Book-Verkäufe. Insgesamt soviel, dass es reicht, zumindest für uns Sparfüchse mit unseren bescheidenen Ansprüchen.

 

Warum wir trotzdem Bücher machen

Die entspannten Seiten des Verlegerlebens: Zu Gast beim LCB am Wannsee. (Foto: Blanka Stolz)
Die entspannten Seiten des Verlegerlebens: Zu Gast beim LCB am Wannsee. (Foto: Blanka Stolz)

 

Trotz dieser geringen Einkünfte für uns als Verlag sind wir sehr überzeugt davon, dass es nicht die Aufgabe von Autoren sein sollte, Dinge wie Gestaltung, Lektorat, Herstellung, Pressearbeit und Vertrieb zu übernehmen (und zu bezahlen!), sondern die der Verlage. Autoren sollten die Zeit und den Freiraum haben, sich um die Inhalte zu kümmern, alles andere sollte vom Verlag gemacht werden, und idealweise ergibt sich daraus eine gewinnbringende Teamarbeit.

Wir lieben die Bücher, die wir machen. Wir lieben es, mit so großartigen Autorinnen und Autoren, Musikern, Gestaltern, Fotografen zusammenarbeiten zu können. Wir denken nie über Arbeitszeiten und Überstunden nach. Wir arbeiten viel und immer und trotzdem fühlt es sich nur selten nach Arbeit an. Wir geben lieber für ein Buch alles als für drei Bücher ein bisschen. Manchmal haben wir Pech, dann läuft ein Buch nicht gut, bringt kaum seine Kosten rein. Manchmal haben wir Glück, kriegen eine Förderung, einen kleinen Preis, ein Buch verkauft sich gut, erlebt mehrere Auflagen, der Autor hat sehr viele Lesungen, kriegt viel Presse, überraschende Dinge passieren. Das sind die Momente, die unserer Arbeit ihre Qualität verleihen, die sie unbezahlbar machen, die sie auch unersetzbar machen. Von Jahr zu Jahr läuft es besser, man profitiert von der Backlist, von dem Namen, den man sich macht, von der Entwicklung der Autoren. Inzwischen können einige aus unserem Team schon komplett vom Verlag leben, das war lange Jahre nicht so, wir hatten alle Nebenjobs, aus denen wir uns hauptsächlich finanziert haben. Aber wenn es weiter so läuft wie in den vergangenen Jahren, geht es weiter aufwärts. Dann gibt es sowieso niemals einen Grund, sich zu beschweren. Wir können unserem Motto folgen und mit Menschen, die wir mögen, Dinge tun, die wir gut finden. Aber reich, liebe Freunde, reich werden wir nicht. Doch dafür können wir einen Job machen, den wir lieben.

 

Daniel Beskos ist Mitgründer des mairisch Verlags und bei mairisch vor allem fürs Programm und die Kommunikation verantwortlich.

 

Weiterlesen:
Teil 1 - Manuskripte und Lektorat
Teil 2 - Grafik-Design und Buchgestaltung

Teil 3 - Herstellung

Teil 4 - Korrektorat

Teil 5 - Pressearbeit

Teil 6 - Lesungen

 

 

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Di

29

Okt

2013

Was macht eigentlich ein Verlag? Teil 6: Lesungen

Von Judith von Ahn und Daniel Beskos

Es ist der 25. Oktober 1996. Es ist früh dunkel geworden an diesem Abend. In einem südhessischen Dorf haben sich ungefähr 60 Leute im kleinen, unbeheizten Kickerraum eines Jugendzentrums versammelt. Für Oktober ist es schon ziemlich kalt, man kann den eigenen Atem sehen, alle tragen dicke Pullover und Jacken, drängen sich auf den runtergekommenen Sofas und dem verstaubten Boden eng aneinander. Ganz vorne steht ein Sessel, daneben eine schummrige Tischlampe, ansonsten ist der ganze Raum nur durch Kerzen erleuchtet. Trotz der Kälte wird Bier getrunken. Endlich tritt ein junger Mann nach vorne, lächelt in die Runde und sagt: „Liebe Freunde, willkommen zur ersten Ausgabe des Clubs der lebenden Dichter. Wir eröffnen mit den Worten von W.C. Williams: Hold back the edges of your gowns, Ladies, we are going through hell.”

So fing die allererste Lesung an, die wir jemals veranstaltet haben. Als wir in unserem Jugendzentrum „Das Häuschen“ mit der Idee um die Ecke kamen, hier doch mal Literatur zu präsentieren, waren alle erstmal sehr befremdet. Man veranstaltete dort Parties, Konzerte, Trinkgelage, Lagerfeuer – aber Lesungen? Und doch konnten wir die Lesung letztlich machen. Konnten einige Freunde mit ihren Kurzgeschichten dafür gewinnen. Haben verschämt eigene Texte vorgelesen. Erst wollte kaum einer kommen. Dann war der Raum doch noch gestopft voll. Und blieb es auch, jeden Monat, bei jeder der folgenden Veranstaltungen. Und jedes Mal war es ein fast magischer Moment, wenn alle gebannt den Geschichten zuhörten, wenn immer noch mehr Texte aus den Taschen geholt und gelesen wurden, bis tief in die Nacht. So wie die Texte dieses einen Autors, den keiner von uns kannte, der aber spontan einen langen Weg auf sich genommen hatte, um bei uns mal vorzulesen. Und der dann eine endlos lange Faxreihe auf dem Boden ausrollte, auf der er seinen Text ausgedruckt hatte. Die Geschichte war traurig, dunkel, anklagend, aber auch mit ein bisschen Hoffnung versehen. Wir waren sehr bewegt, an diesem Abend. Wir haben den Autor danach nie wieder gesehen. Wir haben gehört, dass er irgendwann einige Jahre später von einem Lastwagen überfahren wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der mairisch Verlag ist also im Grunde aus dieser Lesereihe entstanden. Seitdem haben wir immer wieder junge, unbekannte Autorinnen und Autoren zu Lesungen eingeladen, sind mit ihnen durchs Land gereist, haben in Jugendzentren und Literaturhäusern gelesen, auf Buchmessen und Bauwagenplätzen, an Flüssen und unter Brücken, in Kneipen, Hallen und Wohnzimmern. Und warum? Weil die Lesungen, auch wenn für unseren Verlag das Büchermachen irgendwann immer wichtiger wurde und auch, wenn sich unsere Lesungsformate inzwischen sehr verändert haben, für uns noch immer wesentlicher Bestandteil der Arbeit mit und an Literatur sind. Persönlichen Kontakt mit seinen Lesern bekommt man selbstverständlich auch auf Buchmessen oder im Internet. Aber nirgendwo geht es so sehr um die Texte selbst, nirgendwo kriegt man so direkte und ehrliche Reaktionen wie bei Lesungen – und nirgendwo macht es so viel Spaß. Das ist für uns bis heute so geblieben. Und es ist der Grund, warum Lesungen für uns noch immer so wichtig sind.

Vom Rechner auf die Bühne

Natürlich ist das ein ganz besonderer Moment: Wenn das Buch gedruckt ist, die ersten Exemplare aus der Druckerei kommen, man es endlich in den Händen halten kann. Nachdem es all die wichtigen Schritte durch das Lektorat, die Gestaltung und Herstellung gegangen ist, die Kollegen geschwitzt und geackert haben, darf man es endlich anfassen, aufklappen und darin blättern. Aber bisher haben es ja nur ganz wenige Personen je gesehen oder darin gelesen: Die Autoren, unser Team von Lektoren, Gestaltern, Presseleuten, und vielleicht auch schon die ersten Journalisten. Aber etwas fehlt da eben noch: Der erste Kontakt mit der Außenwelt, mit den Lesern. Und der versetzt uns alle immer noch regelmäßig in Spannung. Zum Glück findet er meistens bei einer Lesung oder Buchpremiere statt. Wenn der Text dort dann gut ankommt, die Zuschauer gebannt folgen und vielleicht an unerwarteten Stellen lachen oder erstarren, dann erst merkt man, woran man all die letzten Monate so intensiv gearbeitet hat, und wofür es gut war: Einem rundum guten Text in angemessener Form auf die Welt verholfen zu haben.

Von der Bühne in die Medien

Selbstverständlich sind Lesungen auch Werbung. Für den Verkauf eines Buches sind sie allerdings bei weitem nicht so entscheidend wie etwa die Pressearbeit. Dennoch können Sie ein gutes Stück zum Erfolg beitragen, vor allem dann, wenn sich die beiden Bereiche gegenseitig unterstützen: Eine umfangreiche Lesereise trägt sehr dazu bei, die Pressearbeit in den bereisten Städten zu erleichtern, vor allem Lokalzeitungen und Stadtmagazine sind für eine Rezension viel offener, wenn ein Termin des Autors/der Autorin in der Stadt ansteht. Unterstützt wird das Ganze durch klassische Veranstaltungspressearbeit, aber auch durch unsere Online-Kanäle (v.a. Newsletter, Facebook und Twitter). Außerdem ist eine Lesereise auch eine gute Gelegenheit für lokale Medien, vor Ort Interviews mit den Autoren zu führen, auch wenn das leider immer seltener vorkommt. Und umgekehrt trägt die daraus resultierende Medienpräsenz dann eben dazu bei, dass die Lesungen gut besucht sind.

Here we are now, entertain us

Lesungen (Poetry Slams mal ausgenommen) finden ja meistens in Buchhandlungen, im Rahmen von Festivals oder in Literaturhäusern statt. Es gibt allerdings zum Glück auch jede Menge kleinerer Veranstalter, die mit viel Engagement Lesereihen organisieren und oft ein besonders stimmungsvolles Ambiente bieten. Zwar zeichnet sich in den letzten Jahren gerade auf Festivals eine leicht anstrengende Tendenz ab, sich immer abgefahrenere, spektakulärere und ungewöhnliche Orte für Lesungen auszudenken (z.B. in einer Fussballkneipe, im Bordell, auf einer Fähre, in Tunnels und Bergwerken usw.). Aber dennoch sind es gerade die Orte abseits der Buchhandlungen und Literaturhäuser, die oft für ganz große Literaturmomente sorgen können – z.B. Lesungen in privaten Wohnzimmern und WGs, also in ganz besonders intimem Rahmen.

Oder aber: Die Veranstaltung an sich ist einfach etwas ganz Besonderes.

Benjamin Maack etwa absolvierte 2012 zur Buchpremiere seines Erzählbandes „Monster24 Lesungen in 24 Stunden – und hatte sich dazu eine Menge Freunde, Bekannte und Lieblingskünstler eingeladen, die Musik machten, kochten, seine Texte interpretierten, sich gegenseitig mit Elektroschocks traktierten, Tee reichten und Benjamin zum Schluß einfach stützten, wenn er vom Barhocker zu kippen drohte.

Bei Stevan Paul ("Schlaraffenland", "Monsieur, der Hummer und ich") dagegen werden die Veranstaltungen passend zu seinen Erzählungen vom Kochen zu echten Menü-Lesungen – zur Lesung gibt es dann ein mehrgängiges Menü mit den Gerichten aus den vorgelesenen Geschichten. Dann ist etwa in einem Text ein kleiner Junge erst dadurch zu trösten, dass seine Mutter ihm warmen Milchreis mit Kirschen kocht, und die Zuhörer bekommen dann danach genau diesen Milchreis. Ganz einfach, aber super, das Konzept.

Eine Lesereise und ein Bühnenprogramm, auf das wir ganz besonders stolz sind, ist „Du drehst den Kopf, ich dreh den Kopf“, das der Autor Finn-Ole Heinrich und der Musiker Spaceman Spiff (aka Hannes Wittmer) zusammen entwickelt haben. Es besteht aus einer ausgeglichenen Mischung von Finns Texten und Hannes’ Songs, dazu gibt es einige Texte, bei denen Hannes einen Soundtrack aus Loops und Sounds beisteuert. Die beiden stellten uns das Ganze vor und wollten unbedingt damit auf Tour gehen, schnell war auch die dazugehörige CD-Aufnahme beschlossen.

Wir haben es dann tatsächlich geschafft, eine Tour zu organisieren mit 27 Veranstaltungen innerhalb von 31 Tagen, die durch Polen, Deutschland, Tschechien und Österreich führte, mitten im schneereichen Dezember, durch Literaturhäuser, Kulturzentren, Schlösser, Clubs, Cafés, Schulen und Theater. Sicherlich eine der anstrengstenden Lesereisen ever, aber für uns sicherlich auch eine der schönsten. Und für dieses Bühnenprogramm wurden die beiden tollerweise 2012 auch mit dem Preis der Autoren ausgezeichnet.

Solche Momente zu ermöglichen, bedeutet für uns im Verlag natürlich eine Menge Arbeit. Wir handeln ja gewissermaßen als Booking-Agentur: Veranstalter müssen gesucht und überzeugt, die Termine und Honorare ausgehandelt, eine sinnvolle Reiseroute zusammengebastelt, Plakate gedruckt und verschickt, Unterkünfte und Büchertische organisiert, Verträge ausgehandelt und unterschrieben werden. Aber gerade diese Beispiele haben uns gezeigt, warum sich das Ganze doch so sehr lohnt.

Auch mit unseren eigenen Lesereihen in Hamburg, TRANSIT (2003-2008) und PILOTEN (seit 2013) versuchen wir, mehr als nur eine einfache Lesung zu bieten: Bei TRANSIT gab es nicht nur monatlich je 4 AutorInnen, sondern auch ein Rahmenprogramm aus Kurzfilmen, Songwritern, Bands, Foto-Projektionen. Und auch bei unserer neuen Lesereihe PILOTEN gibt es noch Gespräche mit den Autoren rund um ihr Schreiben, aber auch über viel anderes.

Von der Hand in den Mund

Einen Punkt haben wir bis jetzt noch gar nicht erwähnt: Geld. Für nicht wenige Autoren sind Lesungen die Haupteinnahmequelle, noch weit vor den Einnahmen aus den Buchverkäufen oder aus Preisen und Stipendien. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind Lesungen auch für uns interessant: Wir können so aktiv zum Einkommen des Autors beitragen und auf diese Weise die in Indie-Verlagen üblicherweise doch eher niedrigen Vorschüsse etwas ausgleichen.

Das Reisen und Vorlesen wurde in den letzten Jahren immer wichtiger und gehört inzwischen zu einem guten Teil zum Beruf des Autors dazu. Die Bücher „einfach“ nur zu schreiben, reicht meist nicht mehr. Das Selbstverständnis als Autor unterliegt also offenbar einem Wandel – vielfach wird derzeit darüber diskutiert, wie sehr ein Autor sich selbst auch präsentieren können muss, um Erfolg zu haben, wie sehr er auch in der Öffentlichkeitsarbeit und Selbstvermarktung involviert sein muss. Wie weit das notwendig ist, darüber kann man streiten. Für uns ist aber klar, dass zumindest Lesungen selbstverständlich zur Arbeit als Autor dazugehören – nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen. Vom Buchverkauf allein kann fast kein Autor mehr leben. Die meisten Autorinnen und Autoren sind also – und zwar für ihre gesamte Berufslaufbahn – auf Lesungen angewiesen, wenn sie ihr Geld nicht durch andere Nebentätigkeiten verdienen wollen.

Man kann es aber vielleicht auch umgekehrt sehen: In seinem Beruf von Bühne zu Bühne zu reisen, seine Arbeit vor einem interessierten Publikum vorzutragen, sich dann noch beklatschen zu lassen – das ist vielleicht nicht das Schlechteste. Zumindest aber ist es der Ort, an dem die Literatur zum Leben erweckt werden kann.

 

Judith von Ahn ist bei mairisch die zentrale Ansprechpartnerin für alle Lesungen und Veranstaltungen.

Daniel Beskos ist Mitgründer des mairisch Verlags und bei mairisch vor allem fürs Programm und die Kommunikation verantwortlich.

 

Weiterlesen:
Teil 1 - Manuskripte und Lektorat
Teil 2 - Grafik-Design und Buchgestaltung

Teil 3 - Herstellung

Teil 4 - Korrektorat

Teil 5 - Pressearbeit

Teil 7 - Finanzen

 

 

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(u.a. "Was macht eigentlich ein Verlag?", Serie über Lieblingsbuchhandlungen, Countdown BOOKENDS, Interviewreihe mit US-Verlagen u.v.m.)